Alex hat geschrieben: ↑Do 1. Aug 2019, 20:13
Ich bin kein Freund der Theorie, der Zwang habe einen Sinn oder eine Funktion, indem er z.B. im Unterbewusstsein vorhandene Probleme löst. Wenn das tatsächlich wahr wäre, wäre der Zwang kein guter, zumindest kein zügiger „Problemlöser“, wenn man bedenkt, dass die meisten Betroffenen ohne Behandlung lebenslang unter dem Zwang leiden.
Hallo Alex,
ich behaupte nicht, dass der Zwang Probleme löst.
Vielmehr ist meiner Meinung nach das große Problem, dass Probleme ungelöst bleiben, die schon viele Jahre (bei vielen Leuten sogar Jahrzehnte) existieren).
Oftmals gab es schon wiederholende Situationen in der Kindheit, die für uns extrem belastend waren und gegen die wir uns nie gewehrt haben. Als Kinder konnten wir es nicht, dann haben wir gelernt, die Situationen zu akzeptieren und als "normal" anzusehen.
Und das führte dazu, dass wir ähnliche Situationen, die für die meisten Erwachsenen ein "No Go" sind, gar nicht als schlimm, entwürdigend , entmachtend ... erkennen.
Der Grund für diese Behauptung meinerseits ist, dass ich allen Zwänglern, die ich bisher kennengelernt habe, anhand ihrer Aussagen ein Problem mit dem Selbstbewusstsein, der Selbstwahrnehmung und der eigenen Empfindung der Selbstwirksamkeit zusprechen würde.
Es ist extrem typisch für uns, dass wir die Zufriedenheit anderer, sei es der Arbeitgeber, der Partner, die eigenen Kinder, ... bis hin zu Passanten auf der Straße, einen höheren Stellenwert zusprechen als dem eigegen Wohlbefinden.
Und das ist auf Dauer ungesund.
Kraft meines momentanen Kenntnisstandes bezüglich dieses Themas behaupte ich deswegen, dass die Psyche sich irgendwann eine Möglichkeit sucht, diesen Mangel an "erlebter Wichtigkeit (oder auch Wertschätzung) der eigegen Person", auf ihre Art zu kompensieren.
Das muss nicht in einem Zwang enden, kann aber.
Wenn wir einer Zwangsangst erlegen sind, geht das mitunter so weit, dass wir einen Tunnelblick bekommen und es nur noch die Zwangsangst und uns gibt. Wenn das Wohlbefinden der anwesenden Mitmenschen kein Zwangsthema ist, ist es uns sch...egal. In dem Moment ist unsere Angst das Wichtigste, da müssen wir durch, da müssen auch unsere Mitmenschen durch. In dem Moment nehmen wir uns wichtig
und erfüllen damit ein Grundbedürfnis.
Der Lösungsansatz aufgrund dieser Argumentation ist folgender:
Wenn ich es schaffe, die "gefühlte Wichtigkeit", die das Zwangsverhalten meinem Unterbewusstsein verschafft, auf eine andere,
gesündere Art und Weise zu bekommen, braucht mein Unterbewusstsein den Zwang nicht mehr und ich werde ihn nach und nach (weil unwichtig) vergessen.
Ich selbst mache in letzter Zeit immer wieder die Erfahrung, dass das Konzentrieren auf solche Schlüsselsituationen, in denen ich mich normalerweise unterbuttern lasse, es aber nicht sollte, sehr viel bringt. Ich arbeite daran, nach und nach diese Situationen in den Griff zu bekommen und jedes Mal, wenn ich merke dass es gelingt, gibt mir das einen positiven Schub und es ist auch so, dass seitdem die Zwangsängste nach und nach an gefühlter Dringlichkeit verlieren.
Silvias Beitrag ist auch ein sehr schönes Beispiel dafür.
Meiner Meinung nach sind Zwänge und Ängste nur ein Symptom. Dieses kann man natürlich sehr wirkungsvoll mit Expositionen bekämpfen.
Wenn man aber das ursächliche Problem nicht bearbeitet, kann ich mir gut vorstellen, dass man die Kontaminationsangst zwar abbaut, in der nächsten Stressphase aber dann einen Kontrollzwang entwickelt. Diesen kann man sich dann natürlich auch wieder abtrainieren, bis zur nächsten Stressphase, wo dann vielleicht so etwas wie Skinpicking anfängt.
Ich denke, bei Zwängen führen sprichwörtlich zwei Wege nach Rom. Und am Sinnvollsten ist es, sie beide gleichzeitig zu gehen