Phobie? breit gefächerte Zwänge?

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Elmo
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Registriert: Mo 23. Mär 2020, 11:08

Phobie? breit gefächerte Zwänge?

Beitrag von Elmo »

Hallo,

ich (48 J.) bin seit 3 Monaten mit meiner Freundin (41 J.) zusammen und sehr schnell stellte ich eine Keimphobie bei ihr fest. Wie bei vielen, ist es "bei ihr nicht krankhaft, sondern andere sind unvorsichtig."
ok, wir haben alle unsere Macken, von daher war das für mich ok.
Nach Hause kommen und gleich Hände waschen, das ist für mich auch normal. Nur stell ich vielleicht schon mal 3-4 Sachen in der Küche ab, bevor ich mir die Hände wasche. Das geht bei ihr nicht.
Wenn ich mit der Tram zu ihr kam, war es anfangs auch kein Thema, mich auf ihre Couch zu setzen. Nun soll ich bitte eine andere Hose anziehen, um die Keime aus der Tram nicht zu verteilen. In Bezug auf Corona..ok, mach ich also. Ich gehe raus, spazieren. Setze mich nirgends hin, komme mit niemanden in Kontakt. Dennoch: andere Hose anziehen, weil ja in der Luft Viren sind. Es steigert sich also gerade. Gestern wurde ich distanziert verabschiedet, weil "die Jacke kontaminiert ist".
Der Bogen wurde für mich damit überspannt.
Mit Phobien kenne ich mich aus und ich konnte, nachdem mein Ärger abgeklungen war, nachvollziehen, dass sie Angst hat und sich das nicht aussucht. Und wahrscheinlich hat sie schon oft ihre Angst ausgehalten, mir zuliebe.

Heute morgen traf es mich wie ein Feuerwerk: ich denke, sie hat Zwänge.
Sie geht freitags mit ihrer Mutter zum Asia Büffet - was schon ein Widerspruch an sich ist, wo doch sämtliche Leute an diesem Büffet sind. Corona lässt das nun nicht zu, und sie redet immer wieder, wie schrecklich das ist.
Sie geht 3x wöchentlich joggen, immer zur selben Zeit. Als sie erfuhr, dass eine Ausgangssperre heißt, auch nicht joggen gehen zu können, wurde sie ganz unruhig. "Das geht nicht. Ich muss doch meinen Bewegungsdrang ausleben."
Sie isst immer das gleiche Eiweißbrot. Als es das jetzt gerade nicht gab und ich ihr eine Alternative bot, entglitten ihre Gesichtszüge.
Sie hat daraufhin tags drauf sofort 10 Packungen des Brotes gekauft!
Sie kauft jede Woche die gleichen Brötchen und friert sie ein, für abends innerhalb der Woche; mit dem immer gleichen Käse - wovon etwa 8 Packungen im Kühlschrank sind - Rucola, Tomaten, Petersilie, Spinat. Hier gibt es wenig Spielraum, aber immerhin wechselt sie die Salate. Kein Rucola geht allerdings nicht. Als ich aufgrund der Pandemie meinte "na ja, dann gibts das eine oder andere mal eben ein paar Tage nicht", sagte sie nichts. Ich spürte aber eine Anspannung.
An jeder Steckdose ist noch mal eine Leiste, die sich ausschalten lässt. Es könnte ja was passieren. Liest man ja immer wieder.
Bei mir im Schlafzimmer dulde ich keine Smartphones oder sonstige Computer. (ich habe durch die Arbeit damit genug zu tun und das soll mein Arbeitsfreier Raum sein). "Was ist wenn Dein Wecker nicht klingelt? Wenn der Strom ausfällt?" Immer wieder nahm sie doch ihr Smartphone mit. Nach der 3. "Ansage" von mir, ist nun ihr Smartphone in ihrer Jacke, die direkt vor dem Schlafzimmer hängt, und natürlich klingelt 5 Minuten nach meinem Wecker auch das Handy - zur Sicherheit.
Ich hab noch mehr Beispiele, das ufert aber jetzt schon aus :-)

Eine Störung wird ja als krankhaft bezeichnet, wenn derjenige darunter leidet. Tut sie das? Ich kann das schwer beurteilen. (Ich fange an darunter zu leiden :-/) Manchmal denke ich "ja" und manchmal ist sie so überzeugt, richtig zu agieren, und wir anderen haben eben einfach nur keine Ahnung, welche Risiken wir eingehen.

Mein Gefühl ist, dass die Pandemie ihr Verhalten verstärkt. Ich bin unsicher, wie ich damit umgehe,
Mein Ansatz war jetzt, ihr "Problem" ernst zu nehmen und zu akzeptieren, ihr auch entgegenzukommen (also andere Hose anziehen..), aber gleichzeitig sie nicht in allem zu bestärken, dass sie "Recht" hat, sondern auch mal abzulehnen etwas zu tun. (nämlich nicht in 5 Läden zu rennen, um genau dieses Brot zu bekommen, was an sich auch widersprüchlich ist - ich soll ja nicht mit so vielen Leuten in Kontakt kommen wegen Corona).

Sorry, für so viel Text :-) und Danke für Eure Zeit und Meinungen.
Mo
vimi
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Re: Phobie? breit gefächerte Zwänge?

Beitrag von vimi »

Hallo Elmo,

keine leichte Situation, in der du da bist.
Ich spreche aus mehreren Jahrzehnten an Erfahrung mit Zwängen meinerseits.
Zwänge haben den super guten "Vorteil", dass sie eine der ganz wenigen psychischen Störungen sind,
die auf jeden Fall in den Griff zu bekommen sind.
Meines Erachtens ist der Mensch leidensgetrieben. Soll heissen, nur genügend Leid bringt ihn zur Umkehr.
Wichtig ist daher, dass man sich die Situation mit den Zwängen eingesteht und wie bei einem Alkoholiker auch aus tiefster innerer Überzeugung die Heilung will. Nur dann wird man sich Hilfe holen und die Zeit bis zur "Heilung" durchstehen - nicht leicht, aber bei den Zwängen immer machbar, ob Verhaltenstherapie, ob Medikament oder beides - ein Weg davon (meistens die Kombi) bringt es jedenfalls. Dieser Weg lässt auf jeden Fall deutlich weniger Lebenszeit sinnlos verpuffen, als den Zwängen weiterhin zu folgen.
Es ist ein bisschen wie, nichts gegen eine gebrochenes Bein zu tun.
Daher kann ich dich nur ermutigen, den Weg der Hilfe herbeizuführen, aber eben nur zusammen mit deiner Freundin.
Liebe Grüße vimi
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SHG
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Time 4 change

Beitrag von SHG »

Cool vimi, dass du dabei bleibst und, obwohl sich im anderen Thread die Leute mit Antworten zurückhalten, weitermachst. Ich stimme einigem was du schreibst zu - gegen Zwänge kann man echt was machen. Ob es unbedingt noch mehr Leiden braucht, da bin ich mir nicht sicher - ich würde es vielleicht so ausdrücken: es sollte nicht so sein, dass man immer nur oberflächlich das Leiden vermindert und damit nicht dazu kommt etwas tiefgründiger Veränderungen zu erarbeiten. Verhaltenstherapie und Medikamente dürften helfen, das ist auch einigermaßen erwiesen und entspricht den Leitlinien (die allerdings auch nicht mehr ganz aktuell sind). Fairerweise muss man auch sagen, dass sich diese Therapien auch weiterentwickeln. Was mir dabei etwas abgeht ist die Arbeit am Zwischenmenschlichen, die meine ich bei Zwängen auch eine sehr wesentliche Rolle spielen kann. Und gerade, wenn es bei dir auch um die Vater-Sohn-Beziehung gehen könnte, wäre das vielleicht bei euch mal ein Versuch wert. Dass du deinen Sohn unterstützen möchtest, besser mit den Zwängen fertig zu werden ist das eine, aber vielleicht ginge es auch noch mehr darum, sich damit zu beschäftigen, wie ihr miteinander tut.

Also nicht wie Cat Stevens meint: "It's not time to make a change" , aber sonst find ich das Leid schön.. ui, den Tippfehler will ich stehen lassen LIED meine ich natürlich.
vimi
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Re: Phobie? breit gefächerte Zwänge?

Beitrag von vimi »

Hallo SHG,

danke für dein Feedback. Kann einfach nur ja dazu sagen.

Was meinst du denn mit Weiterentwicklung der Therapien genau ?

Freue mich wieder von Dir zu hören.

vimi
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SHG
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weniger allein

Beitrag von SHG »

Bzgl. Pharmakotherapie würde ich empfehlen mit dem Facharzt für Psychiatrie zu sprechen.

Die Verhaltenstherapie hat sich zur kognitiven VT und zur sog. "dritten Welle" der VT weiterentwickelt. ACT (Akzeptanz und Commitment-Therapie) wurde schon öfter hier im Forum besprochen. Die beinhaltet Aspekte der Achtsamkeit und Werteorientierung. Inwieweit auch (therapeutische) Beziehung bei der VT zu tragen kommt ist meine ich individuell verschieden und hängt wsl. davon ab, ob der Therapeut das einbringt - aber eben nicht nur, ich denke da sollte man soweit auch selbst verantwortlich sein und einen persönlicheren Austausch einfordern, wenn man denkt, davon könnte man profitieren. Das kann natürlich mühsamer sein (für Therapeut und Klient) als Methoden anzuwenden oder Theoretisches zu besprechen, es kann aber auch sehr spannend und insbesondere hilfreich sein. Warum geht in der Therapie nichts weiter? Warum kann ich bestimmtes, was mich belastet in der Therapie nicht besprechen (liegt es wirklich nur an mir selbst, oder vielleicht auch am Therapeuten)? Ich fühle mich immer noch (wie in einer Abhängigkeit) nicht frei Expos alleine zu machen? Die Therapeutin über/unterfordert mich.. Ich gebe dem Therapeuten kognitiv recht, aber mein Gefühl hält mich davon ab, es wirklich umzusetzen.. Wie geht's mir, wenn der Therapeut verunsichert ist? Ich sollte mich massiv verändern, ich sehe aber kein bisschen Veränderung beim Therapeuten, obwohl wir so wie bisher nicht weiterkommen..
Das sind so zwischenmenschliche Aspekte, die mir einfallen und daran gemeinsam zu arbeiten macht den eigentlichen Unterschied zum Lesen von Büchern oder anderen Formen von Sammeln von Wissen .. aus.
Man erlebt mit, wie der Sohn leidet. Da geht es nicht nur darum, die richtige Lösung für den Sohn zu finden. Da kommt es auch darauf an, einen Teil der Last auf sich zu nehmen und miteinander nach Lösungen zu forschen. Nicht der andere hat ein Problem und ich helfe ihm - wir haben ein Problem und wir helfen uns gegenseitig einen guten Weg zu finden.
Elmo
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Re: Phobie? breit gefächerte Zwänge?

Beitrag von Elmo »

vielen Dank Vimi für Deine ermutigende Antwort.
Inzwischen sind ja schon wieder ein paar Wochen vergangen und es lief insgesamt relativ entspannt. Was wohl auch daran liegt, dass ich ein recht gelassener Mensch bin, der schnell nachgibt, statt unnötig Energien in Rechthabereien zu vergeuden.
Für mich ist ein Problem, dass ich viel spekulieren muss, da sie wenig redet. Ich leite viel aus den Handlungen ab, was aber dahinter steckt und ob überhaupt etwas dahinter steckt, weiß ich gar nicht bzw. spekuliere eben.
Interessant war vor kurzem als ich sagte "Du bist schon jemand, der nicht gut mit Veränderungen klar kommt. Du brauchst schon Deine Routine und Deine gewohnten Abläufe". Sie reagierte gleich mit "ich bin aber kein Autist!" Ich war direkt etwas perplex. "Das wollte ich damit gar nicht sagen. Ich meinte eher, dass Dir diese Routine und Gewissheit, was wann passiert, eine gewisse Sicherheit gibt." ..Sie überlegte und meinte nur "ja, das stimmt schon". Mir ging ihre erste Reaktion gar nicht aus dem Kopf. Bei bestimmten Dingen mag ich auch überhaupt keine Veränderungen und liebe meine Routine, würde aber gar nicht auf die Idee kommen, mit "ich bin kein Autist" zu antworten, wenn mich jemand darauf anspräche. Es scheint mir als hätte sie das schon öfter gehört. Aber auch hier spekuliere ich wieder. Kontrolle ist ein großes Thema bei ihr. Wenn sie mich fragt, ob ich irgendwas ausgeschaltet habe und ich mit Ja antworte, folgt erst einmal ein "sicher?" Oft schaut sie noch nach oder ich merke wie schwer es ihr fällt, es nicht zu tun. Ich sagte schon mal, dass sie ein ganz schöner Kontrollfreak ist. Den "Freak" fand sie nicht so gut und ich nahm ihn zurück, sagte ihr, dass es für mich schon schwierig ist und es schön wäre, wenn sie mir mehr vertraut und mehr zutraut.
Vielleicht kennst Du Stefanie Stahl "So bin ich eben". Hier werden ja 16 verschiedene Typen beschrieben. Ich hab sie da als Präzisionsminister wiedererkannt und möchte sie demnächst auch mal bitten den Test dafür zu machen. Vielleicht irre ich mich ja auch.
Inwiefern ihr Verhalten wirklich Zwänge sind, ob nur eine leichte Form...schwierig, wenn sie darüber nicht spricht. Vielleicht bekomme ich sie demnächst mal dazu und bis dahin schau ich, wie ich weiter damit umgehe.
Danke und viele Grüße-Elmo
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