Es geht um meine Schwester (21), die seit ca. 8 Jahren unter einem Waschzwang leidet und darum, wie meine Mutter und ich (Bruder, 25) mit ihr und ihrem Zwang umgehen. Ich würde mich sehr freuen, wenn Sie mir Ihre Meinung zu der im Folgenden beschriebenen Situation mitteilen könnten.
Wir wohnen aktuell als Familie zusamme, d.h. es sind auch noch 5 weitere Geschwister (11 bis 19) und mein Vater mit im Haus. In den letzten Jahren hat meine Schwester alleine gelebt und studiert, aber seit etwa einem Jahr lebt sie wieder bei der Familie (so wie auch ich). Sie nimmt aktuell ein Urlaubssemester.
Meine Schwester benötigt für ihre Zwangshandlungen jeden Tag sehr viel Zeit und Energie. Besonders das bettfertig machen abends im Bad ist ein Problem, weil sie zum einen ungerne ins Bad geht und zum Anderen dort lange braucht, was zu viel zu spätem ins Bett gehen führt, wenn sie nicht angetrieben wird. Zusätzlich hat sie auch abseits der Zwangshandlungen relativ wenig Antrieb "produktive" Dinge zu tun (vormittags hat sie noch mehr Antrieb als nachmittags).
Wir halten es für unwahrscheinlich, dass sie selbständig und längerfristig ein einigermaßen glückliches Leben mit dem Zwang führen kann. Irgendetwas muss also getan werden.
Wir haben auf zwaenge.de und in dem Buch "Der Zwang in meiner Nähe"(1. Ausgabe von 2008) gelesen, dass die "Verhaltenstherapie mit Exposition" empfohlen wird. Das Prinzip der Therapie haben wir folgendermaßen verstanden: Die zwangserkrankte Person muss ihre Zwangshandlungen unterlassen bzw. einschränken und den damit einhergehenden Widerstand des Zwangs in ihrem Kopf aushalten, damit sie im Nachhinein die Erfahrung machen kann, dass die vom Zwang geforderten Handlungen überflüssig waren.
Die erste Folge aus dieser Information:
- Wir haben eine Therapie und einen Klinikaufenthalt organisiert.
- In der Therapie befindet sich meine Schwester mit der Therapeuthin noch in der "Kennenlern-Phase" aber vermutlich wird sie den im Folgenden geschilderten Konflikt auch bald mit der Therapeutin besprechen.
- Wir vermuten, dass der Klinikaufenthalt in spätestens 3 Monaten beginnen kann.
- Meine Schwester war auch früher schon bei Therapeuten und in einer Klinik aber die Verhaltenstherapie mit Exposition wurde dabei nie angewandt.
- Wir versuchen meine Schwester dazu zu "trainieren" ihre Zwangshandlungen zu unterlassen.
- Einerseits damit sie irgendwann ohne Hilfe den Zwang "in Schach halten kann",
- und andererseits, damit der Zwang nicht jeden Tag zu viel Zeit frisst und sie auch noch produktiv sein kann.
Nun haben meine Mutter und ich sehr verschiedene Vorstellungen davon, wie dieses "Training" und diese "Beschleunigung" meiner Schwester funktionieren und ablaufen soll. Vereinfacht beschrieben:
Meine Mutter:
- Versucht meine Schwester durch wiederholtes und energisches Auffordern dazu zu bringen, Zwangshandlungen abzubrechen.
- Bei vielen Handlungen soll meine Schwester bis zu einer bestimmten Zahl zählen um die Handlung dann abbzubrechen. Das Zählen soll sie einerseits aus dem "Gedankentunnel" des Zwangs raushalten und andererseits eine Zielvorgabe sein.
- Fordere meine Schwester auch zum Abbrechen auf, aber weniger energisch.
- Außerdem versuche ich meine Schwester dazu zu bringen, dass sie sich immer wieder selbstständing vornimmt eine Zwangshandlung zu verkürzen.
- Da mein Vorgehen mehr Zeit benötigt als das meiner Mutter, breche ich bestimmte Zwangshandlungen meiner Schwester ab. D.h. meistens mache ich ihr den Wasserhahn aus. Hier versuche ich zu einem Zeitpunkt abzubrechen bei dem meine Schwester noch nicht selber abbrechen kann aber der Widerstand des Zwangs auch nicht mehr so stark ist.
Meine Mutter:
- Meine Schwester soll Alles selber machen.
- Die Verkürzungen der Zwangshandlungen und die Bereitschaft zur Mitarbeit von meiner Schwester sollen sichtbar sein.
- Es muss schnell gehen.
- Meiner Schwester währenddessen immer wieder energisch zu sagen "Du musst das jetzt machen!" ist ein adäquates Mittel.
- Meine Schwester muss nicht alles selber machen aber sie soll vor jedem Vorhaben (z.B. Hände waschen) laut sagen, ob und wenn ja, welche Zwangshandlungen sie verkürzen will. Sie soll also die Zwangshandlung im Vorhinein "planen".
- Die Bereitschaft zur Mitarbeit von meiner Schwester soll sichtbar sein, aber Verkürzungen müssen nicht unbedingt sichtbar sein. Ich verlasse mich darauf, dass sie sich tatsächlich angestrengt hat, wenn sie das behauptet.
- Wenn es am Ende länger dauert ist das auch ok. Zum Ausgleich breche ich manche ihrer Zwangshandlungen ab (z.B. durch Wasserhahn ausmachen).
- Was ich zu ihr sage geht eher in die Richtung von "Auf gehts! Du musst dich anstrengen!"
- Während der Zwangshandlungen entsprechen ihre Willensäußerungen regelmäßig den Zwangsbedürfnissen. Sie sagt also oft dass sie Dinge will, die eigentlich der Zwang will.
- Abseits des Zwangs zeigt sie eher wenig Antrieb Dinge zu tun, die ihr Leben voran bringen würden. Ihre "Lieblingsbeschäftigungen" sind leider Videos gucken und Essen.
- Sie will grundsätzlich schon den Zwang loswerden, aber scheut tendenziell die Anstrengung des Zwang-Aushaltens.
Ich will noch dazu sagen, dass meine Mutter deutlich gereizter und ungeduldiger mit meiner Schwester umgeht als ich. Das ist sicherlich unter anderem dem Umstand geschuldet, dass meine Mutter jeden Tag sehr viel für die Familie arbeitet und ihre eigene psychische Gesundheit dafür zurückstellt. Ich unterstelle ihr aber auch, dass sie uneinsichtig ist, weil sie seit Jahren von meiner Schwester verlangt im Kampf gegen den Zwang motivierter zu sein, obwohl sich da bei meiner Schwester seit Jahren nichts geändert hat. Andererseits muss man hier aber auch sagen, dass meiner Mutter keine andere Perspektive bleibt. Jedes Szenario in dem sich meine Schwester für den Rest ihres Lebens nicht oder "nur halbherzig" gegen den Zwang wehrt, erscheint meiner Mutter unerträglich.
Mich persönlich belastet die Art und Weise wie meine Mutter mit meiner Schwester umgeht. Meine anderen Geschwister belastet das auch, aber ich bin möglicherweise besonders "betroffen", weil ich mich zu einem gewissen Grad in der Verantwortung sehe, meine Schwester und Geschwister vor meiner Mutter zu "beschützen". Deshalb will ich der Belastung auch nicht ausweichen indem ich ausziehe. Meine Mutter ist so oder so vom Zwang meiner Schwester belastet, aber der Konflikt mit mir ist für sie natürlich auch nicht schön (für mich auch nicht).
Was sind Ihre Erfahrungen mit der "Verhaltenstherapie mit Exposition"?
Was kann einen dazu motivieren die Therapie durchzuhalten?
Vielleicht können Sie mir auf einer Skala von 1 bis 5 sagen, wie weit man gehen muss, um den Zwang abzutrainieren?
- 1 = Es muss nur kurz unangenehm sein. Z.B. wie das Einnehmen eines Teelöffels bitterer Medizin
- 2 = ...
- 3 = Es muss deutlich unangenehm sein und das muss man auch eine kurze Zeit lang aushalten. Es ist aber nicht so schlimm, dass man sich danach noch kurzzeitig schlecht fühlt.
- 4 = ...
- 5 = Es muss sich im eigenen Kopf alles dagegen sträuben, sodass man am liebsten ausrasten würde. Im Nachhinein braucht es noch ein bisschen bis einen das unangenehme Zwangsgefühl vollständig verlässt.
- 1 = Einmal pro Woche eine spezifische Zwangshandlung angehen. Beim Rest keinen Widerstand gegen den Zwang leisten.
- 2 = ...
- 3 = Sich jeden Tag eine bestimmte Zwangshandlung vornehmen und dort besonders viel Widerstand leisten. Beim Rest so viel machen, wie man gerade Kraft hat.
- 4 = ...
- 5 = Möglichst jede Zwangshandlung zu jeder Zeit so stark wie möglich unterdrücken.
- 1 = Nicht Antreiben. Was die Zwangserkrankte nicht aus eigenem Willen schafft, bringt langfristig nichts.
- 2 = Dabei sein, aber nichts sagen. (Zumindest bei meiner Schwester beschleunigt das bereits die Zwangshandlungen.)
- 3 = Immer wieder freundlich dazu auffordern Widerstand gegen den Zwang zu leisten.
- 4 = ...
- 5 = Die Zwangserkrankte so weit treiben wie möglich, auch wenn sie aus eigenem Willen nie so sehr gegen den Zwang handeln würde.
Falls die von mir beschriebenen Abstufungen überhaupt nicht mit Ihren Vorstellungen überein stimmen, freue ich mich natürlich genauso, wenn Sie Ihre Meinung in anderer Form in Worte fassen.
Vielen Dank für Ihre Antwort!
P.S.: Ich weiß, eigentlich sind wir zu Nahe dran und sollten das Alles überhaupt nicht versuchen sondern "den Therapeuten" überlassen. Aber zum Einen halten wir (besonders meine Mutter) es nicht aus, meine Schwester einfach machen zu lassen und zum Anderen hat meine Mutter auch nicht viel Vertrauen in Ärzte (im weitesten Sinne) aufgrund verschiedener negativer Erfahrungen. Im Endeffekt muss meine Schwester es halt doch selber machen, ob mit Therapeut oder mit uns.