Hallo Euch Allen,
fast auf den Tag genau vor einem Jahr kam ich nach Hause zurück, nachdem ich 15 Wochen lang wegen meiner Zwänge und einer Generalisierten Angststörung in einer psychosomatischen Klinik behandelt wurde.
Nach 40jährigem Leiden hatte ich mich endlich dazu entschlossen ernsthaft etwas ändern zu wollen, und meldete mich also bei 2 Kliniken an.
Relativ schnell hatte ich eine Zusage für einen Platz in 2 Monaten. Jetzt habe ich so lange gewartet, da kam es auf die paar Wochen auch nicht mehr an.
In 15 Wochen habe ich gelernt, was die wahren Ängste, Befürchtungen und Auslöser für Zwangshandlungen und Zwangsgedanken sind. Wie man sie aufspürt und "gesund" mit ihnen umgehen kann. Und vor allem, welche Funktionen der Zwang für mich erfüllt.
Neben Einzeltherapie-Stunden gehörten die Therapiestunden "Zwangsbewältig", "Problemlösung", "Gestaltung", "Bewegung", "Entspannung", "Biofeedback" (jeweils in Gruppen) ebenso zum Programm, wie 2 begleitete Expositionen.
Als ich 11 Jahre alt war starb mein damals 21jähriger Bruder. Seit dem litt ich unter Ängsten und Magischem Denken, die leider wesentlich meinen Tagesablauf beeinflusst haben. Ich war damals in Therapie, in der meine Ängste so gut unter Kontrolle gebracht werden konnten, dass ich eine weitgehend unbeschwerte Jugend genießen durfte. Auf die Zwänge wurde im speziellen nicht eingegangen. Das Ergebnis sprach erstmal für sich.
Losgeworden bin ich die "dummen" Gedanken und Ängste aber nicht wirklich. Ich konnte aber eine Zeit lang gut so leben.
So richtig los ging es dann als ich 21 Jahre alt war. Zu den Grübeleien, Kontrollen, Magischem Denken, die sich im Laufe der Jahre wieder richtig breit gemacht hatten in meinem Leben kam ein ausgeprägter Waschzwang.
Schnell habe ich bemerkt, dass ich da nicht mehr rauskomme. Ich kannte das bereits von meiner Mutter, die ebenfalls unter Ängsten und einem Waschzwang litt.
In diversen Therapieanläufen hat sich nicht wirklich etwas verbessert.
Ich bin dann Mutter von 3 Kindern geworden, habe geheiratet, und versucht trotzdem ein 'normales' Leben zu führen. Ich wollte mir vom Zwang nicht vorschreiben lassen, was möglich ist und was nicht.
Dass dieses Leben unfassbar anstrengend und oft sehr unglücklich war, könnt Ihr Euch sicher gut vorstellen.
Alle haben darunter gelitten.
Mit 51 Jahren habe ich dann endlich die Kraft gefunden, den Weg in eine Klinik zu gehen, und kann sagen, dass dies die beste Entscheidung war, die ich jemals getroffen habe!
Auf die einzelnen Schritte, Therapien und Entwicklungen werde ich bei meiner Vorstellung nicht konkret eingehen. Wer Fragen dazu hat, ist hiermit herzlich eingeladen, mir diese zu stellen.
Hervorheben möchte ich an dieser Stelle aber die 2 begleiteten Expositionen, die jeweils großen Eindruck auf mich gemacht haben und mir wieder Hoffnung auf ein unbeschwertes Leben gemacht haben.
In Vorbereitung auf meine Expos habe ich Zwangsprotokolle erstellt, aus denen in der Vorbereitungsphase eine Zwangshirarchie entstand, anhand derer 'Drehbücher' für die Expos erstellt wurde.
Gemeinsam mit meiner Bezugstherapeutin habe ich also festgelegt, dass das Thema der ersten Expo der Waschzwang sein sollte. Ich habe beschrieben, was ich alles anfassen will und wie weit ich bereit bin zu gehen. In der zweiten Expo sollte es dann um die Gedanken gehen.
Am Morgen der 1. Expo war ich freudig aufgeregt. Die Wochen der Vorbereitung haben mir die Angst genommen und ich freute mich auf die Chance. Das war bei vielen meiner Zwangskollegen auf der Station überhaupt nicht so. Ich denke, dass ich von Glück sprechen kann, dass ich der Sache so aufgeschlossen gegenüber stand.
Es ging also los, und gleich bei der ersten Türklinke kamen mir die Tränen. Meine Therapeutin war sehr einfühlsam und sprach mit mir über die aufkommenden Gefühle, während ich die Klinke fest umschlossen hielt.
Nach einiger Zeit baute sich meine Angst, Wut und die Traurigkeit, die hochkamen ab. Ein Hochgefühl kam in mir auf, das ich kaum beschreiben kann.
So zogen wir also weiter durch die Klinik, und ich habe das volle Programm durchgezogen. Meine Therapeutin ermunterte mich bei der einen oder anderen "Station" einen Schritt weiter zu gehen, und mich z.B. nicht nur auf den Boden zu setzen, sondern sogar hinzulegen.
Alles kann - nichts muss.
Im Endeffekt habe ich alles gemacht und habe mich immer stärker und glücklicher gefühlt.
Zum Abschluss gingen wir dann mein Zimmer, wo ich meine privaten Gegenstände mit meinen "verseuchten" Händen angefasst habe, und wir sprachen so lange miteinander, bis Ich Angst und Unbehagen nicht mehr gefühlt habe, und es für mich o.k. war, dass sie wieder ging.
Bei der 2. Expo ging ich mit einer Co-Therapeutin auf einen Friedhof. Hier ging es um Zwangsgedanken und Magisches Denken, etc.
Ich fasse mich kurz. Friedhöfe waren für mich früher ein absolutes NoGo. Heute gehe ich durch, wie durch einen Park.
Bestimmte Zahlen, Buchstaben, Farben, Formen, etc. haben ihren Schrecken weitestgehend verloren.
Ich fühle mich stark.
In der dritten Phase der Therapie führt man Eigen-Expos durch. Auch hier fasse ich mich kurz … Vorwärts immer - zurück nimmer.
Das zu üben ist extrem wichtig. In der Klinik lebt man ja ziemlich wie unter Laborbedingungen. Immer ist jemand da, mit dem man sprechen kann. Es gibt andere Patienten mit ähnlichem oder beinah identischem Krankheitsbild, was ich als große Hilfe in der Zeit betrachte.
Zu Hause, unter alltäglichen Bedingungen ist das alles nicht gegeben. Da ist man dann wieder alleine mit seinem Zwang.
In dem Jahr, in dem ich nur auf mich alleine gestellt bin (abgesehen von meiner Therapeutin, die ich inzwischen im 2-3-wöchigem Rhythmus sehe), ging es mir mal mehr, mal weniger gut.
Ich habe nach wie vor Kontakt zu lieben Menschen, die ich in der Klinik kennen gelernt habe. vor einem Monat haben 9 von uns sich sogar für ein Wochenende getroffen. Waschbären und Angsthasen fürs leben
Auch wenn es mir nicht immer gelingt, so weiß ich doch, was ich zu tun habe und wie ich es schaffe, mich besser zu fühlen.
Ich habe mich seit meinem Klinikaufenthalt nicht eine Sekunde mehr hilflos und ausgeliefert gefühlt. Ich führe ein weitestgehend freies Leben, und arbeite ununterbrochen daran, meine Komfortzone weiter auszubauen.
Da geht noch mehr
Beim Zwänge-Forum habe ich mich nun angemeldet, um mich intensiver austauschen zu können. Vielleicht können wir uns gegenseitig unterstützen und Mut machen, wenn es mal nicht so läuft, und uns miteinander über Erfolge freuen.
Das war jetzt wirklich viel aber ich hoffe, dass der Eine oder Andere dran geblieben ist.
Ich bin wirklich überzeugt von meinem Weg, und weiß inzwischen auch, dass es nie zu spät ist, etwas zu ändern!
Ganz liebe Grüße
Sushi