Seite 4 von 5

Re: Trigger Familie

Verfasst: Mi 14. Apr 2021, 12:31
von Dr. Strange
Jessi hat geschrieben: So 11. Apr 2021, 22:14
Ich habe immer und bei Allem eine Art schlechtes Gewissen. Ich fühle mich nicht schuldig im Sinne von: Ich müsse ihnen etwas zurückgeben. Ich habe eher ein Bild vor Augen wie meine Eltern traurig in ihrem Zuhause sitzen und gerne ein größerer Teil meines Lebens wären. Das kommt immer wieder hoch wenn ich mich distanzieren möchte. Ich wünschte, es wäre bei uns wie in jeder gewöhnlichen Familie, aber ich bin stetig nervös und angespannt wenn ich mich mit ihnen treffe, noch schlimmer ist es wenn ich meinen Freund mitnehme. Ich habe immer Angst, dass irgendwer bloßgestellt wird.
Andererseits möchte ich mich auch nicht komplett distanzieren. Somit telefonieren wir aktuell häufiger aber es kommen keine Treffen zustande, da spielt corona etwas in die Karten.
Hallo Jessica,

man bleibt ein Leben lang wohl Tochter / Sohn der Eltern. Hierbei macht es keinen Unterschied, ob man bereits eigene Kinder hat oder nicht. Hierzu gehört, glaube ich, dass man will, dass es den eigenen Eltern gut geht. Manche Eltern nutzen das aus, um ihren Kindern ein schlechtes Gewissen einzuimpfen, wenn man dies oder jenes nicht tut, was man ihrer Meinung nach aber tun müsste.

Es gibt aber keinerlei Verpflichtung der (erwachsenen) Kinder den Eltern gegenüber zu irgendetwas. Dass darf man nicht vergessen.

Ich finde es traurig und schön zugleich, was du bezüglich deines Vaters geschrieben hast. Ich drücke dir die Daumen, dass du bald einen Weg findest auch mit deiner Mutter Frieden zu schließen.
Danke.
Ich hatte gestern ein längeres Telefonat mit meiner Schwester. Sie erzählte mir erstmalig einige Episoden aus dem Leben unserer Mutter, was mir bisher nicht bekannt war. Es hat mein Verständnis für sie und ihr Handeln "erweitert".
Mir wurde nochmals bewusst, dass zugefügte seelische Verletzungen in die nächste Generation weitergegeben werden, wenn die seelischen Verletzungen nicht behandelt/geheilt werden. :(

Re: Trigger Familie

Verfasst: Mi 14. Apr 2021, 22:51
von Jessi
Hey!

Naja, in diese Richtung geht es bei mir gar nicht. Das ist eher ein inneres Problem meinerseits. Meine Eltern lassen einfach immer wieder Kommentare los, welche mich in Angst versetzen. Das kommt vor allem von meinem Vater. Ich habe stets Angst, dass er mich bloßstellen könnte oder mich gezielt triggern könnte.
Andererseits sind sie aber sehr liebevoll und stolz auf das, was ich in meinem Leben erreiche und freuen sich mit mir. Sie sind auch gerne ein Teil meines Lebens aber das sind irgendwie 2 Fronten, welche aufeinander treffen.

Da habe ich gerade auch ein aktuelles Beispiel zu. Meine Zwangsgedanken beziehen sich, wie bei vielen, auf die Dinge, welche mir am meisten bedeuten. Das ist in meinem Fall meine Beziehung bzw meine Beziehungen, also zu meinem Freund, wie auch zu Freunden oder auch nur Bekannten. Am schlimmsten ist es aber für mich über die Beziehung zu meinem Freund zu grübeln. Ich hatte noch nie jemanden an meiner Seite, bei dem ich mich wirklich geliebt und verstanden gefühlt habe und das habe ich bei ihm endlich gefunden (ich weiß, etwas kitschig :lol: ). Allerdings hat mein Vater die Angewohnheit stets über andere herzuziehen und alles als lächerlich darzustellen, außer es entspricht seiner Meinung. Heute musste ich mir einen dummen Kommentar über meinen Ex in Bezug zu meiner jetzigen Beziehung anhören. Das sind Themen, welche mich enorm triggern und das weiß er auch.
Ich wurde sofort richtig wütend, aber wie schon beschrieben, richten sich meine Zwänge auf meine körperlichen Empfindungen. Somit grüble ich nun ob meine Wut meinem Vater gilt, oder meinen Gedanken, ob die Wut mir etwas sagen möchte, ob es überhaupt Wut ist oder etwas anderes, etwas hinter den Gedanken steht, ob die Gedanken doch nicht nur Ängste wiederspiegeln usw.
Eigentlich ging es mir vorher ganz gut. Der Beitrag ist auch eher dazu gedacht mich ein wenig abzuregen. Vielleicht hat ja jemand einen guten Ratschlag für mich.
Ich war lange nicht mehr einem solchen Trigger ausgesetzt, bzw bin bisher besser damit zurecht gekommen und verurteile mich gerade ein wenig dafür, dass ich es diesmal nicht geschafft habe.
Gerade weil dann die Gedanken wieder lauter werden, welche einem einreden wollen, dass an ihnen ein Funken Wahrheit dran sein kann.

LG Jessi

Re: Trigger Familie

Verfasst: Do 15. Apr 2021, 08:44
von downtherabbithole
Hi Jessi,

darf ich noch mal nachhaken, um dich besser zuverstehen? Du bekommst Gefühle und fragst dich wofür sie stehen, aber vor welcher eventuellen Bedeutung der Gefühle hast du Angst? Geht es dann darum, dass du dann die Beziehung zu deinem Freund in Frage stellst?

Mein Vater stellt zwar niemanden bloß aber er hat mit meinem Exfreund immer angefangen zu streiten und ihn zu provozieren. Außerdem zwingt er mir und meinem Partner immer seine Vorstellung von Partnerschaft auf (Ehe und Kinder). Nachdem die Beziehung in die Brüche ging hat mein Vater noch mal ordentlich über meinen Exfreund abgelästert nachdem ich ihn gebeten hatte sich in Zukunft aus meinen Beziehungen zu halten. Das hat mich extrem verletzt. Ich bin mit meinem neuen Freund seit zwei Jahren noch nicht bei meinen Eltern gewesen, weil ich Angst habe, dass das gleiche wieder passiert (Corona spielt auch hier in meine Karten). Was ich damals zumindest gelernt habe ist, dass ich mit meinem Partner nicht mehr zu eng bei meinen Eltern Urlaub machen würde, also zB. lieber in ein Hotel gehe und zum Essen und Unternehmungen vorbei komme. Dadurch verstehen sie auch meine Grenzen.

Bei mir hängt es ganz stark damit zusammen, dass ich lernen muss mich von der Meinung und Einstellung meiner Eltern frei zu machen und mich dadurch nicht verunsichern zu lassen. Ich hab mich als Kind von meinem Vater nie akzeptiert gefühlt für das was ich bin und ich durfte auch nie meine Meinung und meine eigene Lebenseinstellung haben. Deswegen hänge ich nicht gerne mit meinen Eltern irgendwo drin. Letztens ging es eigentlich um was positives, wo ich aber bis an ihr Lebensende mit meinen Eltern in was verwickelt bin, mein Vater rief mich an und stellte mich quasi vor vollendete Tatsachen OBWOHL ich vorher gesagt habe, ich möchte mich selber noch mal dazu informieren. Nachdem ich aufgelegt hatte hab ich mich richtig schlecht gefühlt und mich dann gefragt ob das jetzt ein Zeichen dafür ist, dass das eher schlecht laufen wird, mir nicht guttut und ich es lieber lassen sollte. Ich hab das zwar nicht in Form von Zwängen aber ich hätte fast zurückgerufen und das ganze abgeblasen. Ich hab dann mit meiner Therapeutin darüber geredet und ihr gesagt, dass ich immer nicht weiß wann ich meinem Bauchgefühl trauen kann. Sie meinte dann zu mir, dass eben Depressive und auch Menschen mit Zwangserkrankung dazu tendieren alles eher negativ zu interpretieren und das es deswegen tatsächlich Sinn macht, wenn ich wie in meinem Fall dann kurz mal mit einer Freundin spreche, die mir den Kopf gerade rückt, oder eben rational noch mal durchgehe, was welceh Erklärung die eigentlich logischere ist.

Mir hat das ganz stark gezeigt, dass ich einfach durch vieles von meinen Eltern wahnsinnig verunsichert werde und sie mir eben irgendwo auch Angst machen.

Ich weiß nicht, ich hab dir meine Geschichte mal erzählt, vielleicht kannst du irgendetwas für dich daraus ziehen :).

Re: Trigger Familie

Verfasst: Do 15. Apr 2021, 10:16
von Jessi
Hey!

Danke für deine schnelle Antwort. :)
Erstmal zu deiner Frage:
Es geht nicht immer um Gefühle, auch Dinge wie Bauchschmerzen, Kopfschmerzen, oder andere körperliche "Funktionen" wie ein Kloß im Hals, o.Ä. verunsichert mich. Ich analysiere diese Dinge dann so weit, dass ich entweder davon überzeugt bin, dass eine Freundin keinen Kontakt mehr zu mir möchte, mein Chef mich bald rausschmeißen und nichts von mir halten würde oder die Beziehung zu meinem Freund kaputt gehen könnte. Also je nach Fokus der Beziehungen, ist es dann schonmal etwas anderes. Das mit meinem Freund belastet mich aber am meisten.

Bei meinem Vater ist es so, dass ich Angst habe, dass er gezielt etwas gegen mich verwendet. Als mein Ex damals Schluss gemacht hat, sagte mein Vater in einer Auseinandersetzung mit mir z.B: Du hast ja sogar ihn vergrault mit deiner Art, du bist doch selbst Schuld, dass du jetzt alleine bist.
Oder auch das penetrante Nachfragen ob ich denn eine Zukunft mit meinem Freund möchte, als ich sie vorgestellt habe. Im Nachhinein unterstellte mein Vater mir, ich würde ja gar nicht so verliebt wirken. In dem Moment war ich durch die rosa rote Brille so glücklich wie ein kleiner Teenager bei seiner ersten Schwärmerei. Aber er weiß, dass mich solche Themen triggern und selbst wenn es nicht so wäre, fände ich es eine bodenlose Frechheit so etwas zu behaupten und sich einzumischen. Wenn ich ihn darauf anspreche ist es stets nur Spaß gewesen.
Mit meinem Ex war ich auch relativ häufig bei meinen Eltern, allerdings hat es mir auch nicht unbedingt gut getan. Das habe ich aber erst durch die Therapie gelernt. Und das lag auch nur daran, dass ich damals noch dort wohnte.
Mein Freund und ich sind jetzt auch in 2 Jahren noch nie dort gewesen. Wir haben uns mal auswärts getroffen, als die Gastronomie noch geöffnet war. Davor war ich aber stets nervös und brauchte ein paar Tage um damit zurechtzukommen. Eigentlich wünschte ich mir ja, dass es mit meinen Eltern genauso harmonisch wäre wie mit seiner Familie, das habe ich in der Kennenlernphase auch meinen Eltern erzählt.
Solche Dinge ziehen sich quer durch meinen Lebenslauf, nicht nur in Beziehungen, sondern auch schulisch oder beruflich meinen sie immer sie könnten mir Ratschläge aufzwingen.
Es klingt ein wenig wie bei dir. Meine Eltern verunsichern mich auch und machen mir Angst. Ich habe als Kind auch deren Meinungen einfach übernommen, erst vor ein paar Jahren ist mir aufgefallen wie schädlich das für mich war und wie dumm ich manches eigentlich selbst empfinde.

Dass man nicht immer auf sein Bauchgefühl hören kann/muss, beruhigt mich ein wenig. Ich glaube, das ist bei Zwänglern sowieso sehr schwer, da man eher gegen die Intuition arbeiten muss (in Expos).

LG Jessi

Re: Trigger Familie

Verfasst: Do 15. Apr 2021, 12:03
von André
Hallo,

ich hatte überwiegend eine schöne Kindheit in der Familie erlebt. Meine Mutter war mein Anker in der Brandung und ein Engel auf Erden. Mein Vater war oft ein Wochenendtrinker, weil er seine depressiven Phasen mit Alkohol betäubt hat. Diese Momente waren sehr unangenehm, aber ich kann in diesem Fall differenzieren. Mit Alkohol war mein Vater häufig grausam zu einem, aber ohne Alkohol war er fürsorglich, liebte mich sehr und unterstützte mich in allem. Bei mir war es die Gesellschaft und ich selbst, die verantwortlich sind für meine Erkrankung. Schon im Kindergarten bin ich bei gleichaltrigen Kindern negative aufgefallen, weil ich lieber gelesen habe, als mit ihnen zu spielen. Dadurch wurde ich jeden Tag geschlagen und als „Pferd“ misshandelt, als meine Mutter die Riemen am Hals entdeckte, gab es folgenschwere Entwicklungen für mein Leben. Meine Eltern wurden erst beschuldigt, mich zu misshandeln, als das geklärt wurde, entließ man eine Kindergärtnerin. Dies empfinde ich bis heute als falsch, dadurch schwor ich mir in Zukunft alles zu tun, um so etwas zu verhindern. Dadurch habe ich nur noch geschwiegen bei allen zukünftigen Misshandlungen, die ich erlebt habe, zum Beispiel habe ich in der Schulzeit ab der 5. Klasse jeden Knochenbruch mit Tollpatschigkeit erklärt oder es sei ein Sportunfall gewesen. Gerade der Waschzwang hat sich bei mir entwickelt, weil ich wie ein Aussätziger in der 8. Klasse behandelt wurde. Ich fühlte mich dadurch zum einen dreckig und zum anderen, als ob ich eine ansteckende Krankheit hätte. Andere Zwänge kamen dazu wie Zähl-, Wiederholungs-, Kontroll-, Gedankenzwang und eine fürchterliche Kombination Gedankenzwang gekoppelt mit Depression. Jeden Tag muss ich mein Tag bewerten, wenn der Tag positive ausfällt, muss ich mich in einer depressiven Stimmung bringen. Nicht immer liegt die Schuld an solcher Erkrankung an das Elternhaus, ich fühlte mich zu Hause geliebt und geschätzt, was ich von der Gesellschaft nicht sagen kann. Ich fühle mich allein niemals einsam, aber unter anderen bin ich mutterseelenallein.

Re: Trigger Familie

Verfasst: Fr 16. Apr 2021, 10:02
von Dr. Strange
Hallo André,

in Deinem Beitrag ist mir aufgefallen, dass Du von Verantwortlichkeit im Zusammenhang mit den Ursachen von Zwängen gesprochen hast. Diese Formulierung hat mich sehr nachdenklich gemacht.

In meinem Denken kommt (zu) oft das Wort Schuld vor. Den (Mit)Verursachern ist nicht bewusst, was sie mit ihrem Verhalten gegenüber anderen anrichten. Insofern ist Schuld der falsche Begriff. Danke für diesen wertvollen Impuls.

Ob Familie, Umfeld oder Gesellschaft ursächlich für die Ausbildung von Zwängen sind, ist natürlich nicht unwichtig. Gemeinsam ist allerdings, dass die Betroffenen, als Reaktion, Zwänge unterschiedlichlicher Prägung entwickeln.

Ich frage mich allerdings oft, weshalb nicht alle Menschen Zwänge oder andere psychische Erkrankungen ausbilden, die in ihrer Kindheit oder Jugendzeit unterschiedlichen Misshandlungen ausgesetzt waren.

Was macht den Unterschied?

Dieses Erklärmodel hört sich für mich logisch an.
(Soweit mir dieses Urteil zusteht, da irrationale Gedanken ansonsten ungewollt und ungefragt meinen Tag "bereichern" ).

Löwenzahnkinder und Orchideenkinder

www.sueddeutsche.de/gesundheit/psycholo ... 040879!amp

Re: Trigger Familie

Verfasst: Fr 16. Apr 2021, 21:16
von André
Hallo Dr. Stange,

die Verhaltensgenetik ist ein Bereich, dem ich nur eine geringe Bedeutung schenke. Mich interessiert eher, wie wir das vorgelebte Verhalten von vertrauten Personen entweder übernehmen oder wie man ein entgegengesetztes und dadurch auch ein „vererbtes Verhalten“ antrainiert. Ich denke, dass man dadurch gar keinen freien Willen hat, wie so viele Menschen meinen. Wir werden gesteuert durch unsere Eltern und die Gesellschaft, auch wenn wir in der entgegengesetzten Richtung gehen. Man soll nicht nur schwarz-weiß sehen, sondern auch graue Farbtöne, aber wenn man die Gesellschaft sich mal genauer betrachtet, sieht man bei den meisten Menschen, dass für sie nur schwarz-weiß existiert. Ich bin der Meinung, dass der überwiegende Anteil der Menschheit psychisch krank ist, aber sich niemals behandeln würde. Entweder weil sie sich selbst nicht als krank empfinden (z. B. viele leicht bis relative, stark narzisstisch veranlagte Menschen), oder weil sie ein Mittel gefunden haben, damit sie klarkommen z. B. Drogen; Gewalt gegenüber anderen Lebewesen oder Gegenstände; seine Wut auslassen z. B. Shitstorm; Macht Gehabe; Verdrängung von z. B. sexuellen Misshandlungen (Oft verlieren diese Personen Empathie und wissen nicht warum, bis eventuell die Erinnerung zurückkommt, meistens dann mit einer Wucht, die im schlimmsten Fall zum Selbstmord führt). Außerdem darf man die Kettenreaktionen nicht außer Acht lassen. Diese finden nicht nur in der Physik bzw. Chemie statt, sondern auch in der Geschichte und im Alltag. Als Beispiel ohne Ablasshandel, kein auftreten von Martin Luther, keine Spaltung der Kirche, kein dreißigjähriger Krieg, keine leeren Kassen in der katholischen Kirche, keine Ausbeutung der Indianerbevölkerung in Südamerika durch die katholische Kirche etc. Wenn ich mit jemanden spreche, überlege ich mir vorher, ob meine Worte die Person verletzen können und versuche dieses natürlich zu verhindern, weil man nie weiß, was für Folgen dadurch entstehen können. Damit meine ich, wenn ich jemand mit einem Wort verletze, kann diese Person solche Wut in sich sammeln, dass er nach Hause kommt und z. B. ohne Grund sein Kind schlägt. Wer ist nun verantwortlich, ich empfinde es, dass auch ich dann verantwortlich wäre, deswegen sollte man immer darauf achten, dass man niemanden mit Worten oder Taten verletzt, dieses üben leider viel zu wenige Menschen aus.

Wir sind Familie

Verfasst: Sa 17. Apr 2021, 07:40
von SHG
Ich meine, wir sollten uns bewusst sein, wenn wir unsere Eltern bzw. ja dann eigentlich unsere eigene Erziehung, die uns zuteil wurde, abwerten, dass wir damit ein Stück weit auch uns selbst abwerten. Das soll nicht heißen, dass wir alles schön reden/denken sollten oder das Schlechte verdrängen sollten und klar gibt es auch Verhaltensweisen und Haltungen den Kindern gegenüber, die absolut inakzeptabel sind. Dennoch, sollten wir das differenzierter betrachten, auch das sehend, was sie gut gemacht haben, was uns gut getan hat und was uns auch zu dem, was wir sind gemacht hat.

Mir fällt das auf, wenn Menschen absolut positiv über ihre Eltern/Erziehung erzählen, dass die besser mit sich zurecht kommen. Jemand der diese hauptsächlich abwertet, ist mit sich selbst auch weniger zufrieden. Die Realität spielt sich meist nicht so einseitig ab und ich merke, dass es mir gut tut, auch das Wertschätzen zu trainieren.

Ich merke das auch beim Lesen und Schreiben hier im Forum, dass ich mich da tendenziell darauf konzentriere, was nicht passt, was die Leute noch nicht können, was sie besser machen sollten und weniger darauf, was die Schreibenden Unglaubliches schon erreicht haben und geschafft haben z.T. trotz sehr herausfordernden Bedingungen. Ich nehme es schon wahr und denke darüber nach und es begeistert mich - zum Ausdruck bringe ich es seltener.

Als mir der Titel "Wir sind Familie" zu diesem Beitrag in den Sinn gekommen (eigentlich zunächst "We are Family", das Lied) ist, da dachte ich eher daran, dass es darum geht, dass wir uns nicht getrennt von den Eltern sehen können. Es ist aber so, dass ich irgendwie zu anderen Menschen mit Zwängen auch etwas ähnliches, wie eine "Verwandtschaft", empfinde.

Re: Trigger Familie

Verfasst: Sa 17. Apr 2021, 15:07
von Dr. Strange
Hallo André,


André hat geschrieben: Fr 16. Apr 2021, 21:16
die Verhaltensgenetik ist ein Bereich, dem ich nur eine geringe Bedeutung schenke. Mich interessiert eher, wie wir das vorgelebte Verhalten von vertrauten Personen entweder übernehmen oder wie man ein entgegengesetztes und dadurch auch ein „vererbtes Verhalten“ antrainiert. Ich denke, dass man dadurch gar keinen freien Willen hat, wie so viele Menschen meinen. Wir werden gesteuert durch unsere Eltern und die Gesellschaft, auch wenn wir in der entgegengesetzten Richtung gehen. Man soll nicht nur schwarz-weiß sehen, sondern auch graue Farbtöne, aber wenn man die Gesellschaft sich mal genauer betrachtet, sieht man bei den meisten Menschen, dass für sie nur schwarz-weiß existiert. Ich bin der Meinung, dass der überwiegende Anteil der Menschheit psychisch krank ist, aber sich niemals behandeln würde. Entweder weil sie sich selbst nicht als krank empfinden (z. B. viele leicht bis relative, stark narzisstisch veranlagte Menschen), oder weil sie ein Mittel gefunden haben, damit sie klarkommen z. B. Drogen; Gewalt gegenüber anderen Lebewesen oder Gegenstände; seine Wut auslassen z. B. Shitstorm; Macht Gehabe; Verdrängung von z. B. sexuellen Misshandlungen (Oft verlieren diese Personen Empathie und wissen nicht warum, bis eventuell die Erinnerung zurückkommt, meistens dann mit einer Wucht, die im schlimmsten Fall zum Selbstmord führt).


Da ich davon ausgehe, dass sowohl genetische Faktoren, sowie das prägende Umfeld, für die Entwicklung eines Menschen maßgeblich sind, kann man die familiäre Prägung natürlich nicht außen vor lassen.
In meinem Elternhaus z. B. war es wichtig, dass die Fassade nach Außen stets gewahrt wurde. Man vertrat ein konservatives Weltbild, wurde diesem aber in keiner Weise selbst gerecht. Mein Vater war nämlich Tablettenabhängig und meine Mutter Alkoholikerin, die ihre (auf dem Papier bestehende) Ehe eher unkonventionell auslebten.

Insofern hast du vollkommen recht, prägten mich meine Eltern dahingehend, dass ich deren Beispiel nicht folgen wollte. Es hätte auch in die andere Richtung gehen können.

Deine Einschätzung, dass wesentlich mehr Menschen als in offiziellen Statistiken aufgeführt sind, psychisch krank sind, teile ich.

Außerdem darf man die Kettenreaktionen nicht außer Acht lassen. Diese finden nicht nur in der Physik bzw. Chemie statt, sondern auch in der Geschichte und im Alltag. Als Beispiel ohne Ablasshandel, kein auftreten von Martin Luther, keine Spaltung der Kirche, kein dreißigjähriger Krieg, keine leeren Kassen in der katholischen Kirche, keine Ausbeutung der Indianerbevölkerung in Südamerika durch die katholische Kirche etc. Wenn ich mit jemanden spreche, überlege ich mir vorher, ob meine Worte die Person verletzen können und versuche dieses natürlich zu verhindern, weil man nie weiß, was für Folgen dadurch entstehen können. Damit meine ich, wenn ich jemand mit einem Wort verletze, kann diese Person solche Wut in sich sammeln, dass er nach Hause kommt und z. B. ohne Grund sein Kind schlägt. Wer ist nun verantwortlich, ich empfinde es, dass auch ich dann verantwortlich wäre, deswegen sollte man immer darauf achten, dass man niemanden mit Worten oder Taten verletzt, dieses üben leider viel zu wenige Menschen aus.
Wenn jemand sein Kind schlägt, so meine Meinung, ist in erster Linie derjenige verantwortlich, der zuschlägt.
Die Verantwortung für das eigene Handeln, entbindet uns natürlich alle nicht davon, uns möglichst so zu verhalten, dass wir andere nicht verletzen.

Ich versuche diesem Anspruch dadurch gerecht zu werden, dass ich mich z. B. an den betriebsinternen Lästereien, sowie Klatsch und Tratsch nicht beteilige.

Und ja, leider achten viele Menschen nicht darauf, was sie bei anderen anrichten. Und wenn es im kleinen schon nicht gelingt, braucht man sich über weltweite Konflikte nicht weiter wundern.

Re: Wir sind Familie

Verfasst: Sa 17. Apr 2021, 15:38
von Dr. Strange
SHG hat geschrieben: Sa 17. Apr 2021, 07:40 Ich meine, wir sollten uns bewusst sein, wenn wir unsere Eltern bzw. ja dann eigentlich unsere eigene Erziehung, die uns zuteil wurde, abwerten, dass wir damit ein Stück weit auch uns selbst abwerten. Das soll nicht heißen, dass wir alles schön reden/denken sollten oder das Schlechte verdrängen sollten und klar gibt es auch Verhaltensweisen und Haltungen den Kindern gegenüber, die absolut inakzeptabel sind. Dennoch, sollten wir das differenzierter betrachten, auch das sehend, was sie gut gemacht haben, was uns gut getan hat und was uns auch zu dem, was wir sind gemacht hat.
Der Blick richtet sich jedoch meist auf das, was nicht funktioniert hat. Leider.
Mir fällt das auf, wenn Menschen absolut positiv über ihre Eltern/Erziehung erzählen, dass die besser mit sich zurecht kommen. Jemand der diese hauptsächlich abwertet, ist mit sich selbst auch weniger zufrieden. Die Realität spielt sich meist nicht so einseitig ab und ich merke, dass es mir gut tut, auch das Wertschätzen zu trainieren.
Was vermutlich daran lag, dass die Eltern dieser Kinder relativ vieles richtig gemacht haben.
Zum Glück gibt es auch genügend positive Beispiele.
Meine Frau z. B. ist sehr behütet aufgewachsen und hat/ hatte ein hervorragendes Verhältnis zu ihren Eltern. Obwohl die Familie nicht im Geld geschwommen ist und man sich vieles nicht leisten konnte, waren die Eltern immer für sie da. Ich habe den Eindruck, dass sie eine sehr glückliche Kindheit hatte.
Es mag aber sein, dass der Blick auf meine eigene Kindheit derzeit tatsächlich etwas einseitig ist. Natürlich gab es auch viele positive Erlebnisse. Die sollte ich mir wieder etwas bewusster machen.
Ich merke das auch beim Lesen und Schreiben hier im Forum, dass ich mich da tendenziell darauf konzentriere, was nicht passt, was die Leute noch nicht können, was sie besser machen sollten und weniger darauf, was die Schreibenden Unglaubliches schon erreicht haben und geschafft haben z.T. trotz sehr herausfordernden Bedingungen. Ich nehme es schon wahr und denke darüber nach und es begeistert mich - zum Ausdruck bringe ich es seltener.
Kann es sein, dass wir in unserer westlichen Gesellschaft so konditioniert sind? Meist sieht man nur, was man noch alles braucht und sieht nicht, was man schon alles hat?
Als mir der Titel "Wir sind Familie" zu diesem Beitrag in den Sinn gekommen (eigentlich zunächst "We are Family", das Lied) ist, da dachte ich eher daran, dass es darum geht, dass wir uns nicht getrennt von den Eltern sehen können. Es ist aber so, dass ich irgendwie zu anderen Menschen mit Zwängen auch etwas ähnliches, wie eine "Verwandtschaft", empfinde.
Schöner Beitrag. Ich bin froh auf dieses Forum gestoßen zu sein. Bereits der respektvollen Umgang untereinander hebt sich wohltuend von anderen Foren ab.