Nicht hilfreiche Hilfsmittel

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OCD-Marie
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Re: Nicht hilfreiche Hilfsmittel

Beitrag von OCD-Marie »

"Aber diese Probleme sind nun mal einfach gar nicht zu lösen, sondern in gewissem Ausmaß zu akzeptieren. In welchem Ausmaß, das ist die Kunst und darin unterscheiden sich Menschen. Anstatt aufzufordern, man solle das eigentliche Problem lösen, würde ich sagen man soll akzeptieren, dass das eigentliche Problem nie ganz zu lösen sein wird."
Ich finde schon richtig, zu sagen, "das Problem zu lösen". Das Akzeptieren des Unvermeidlichen ist ein Teil davon. Aber eben nicht alles. Wenn eine Frau in der Beziehung/Ehe Gewalt erlebt würdest du ihr sicher auch nicht raten eben zu akzeptieren, dass es in der Welt einfach immer mal wieder gewalttätig zugeht, oder ?
Sicher, diese Tatsache existiert. Damit muss man lernen umzugehen. Das beinhaltet aber auch, ggf. die Beziehung zu beenden, bei der Partnerwahl "besser aufzupassen" (was nicht immer so gut funktioniert), sich finanziell "auf eigene Beine zu stellen", zu lernen, sich selbst zu verteidigen usw...
Zu LERNEN, auf GESUNDE Weise mit solchen Situationen umzugehen. Eine gewisse Akzeptanz gehört dazu, ist aber längst nicht alles.

Auf Zwänge bezogen:

Nehmen wir mal das Beispiel eines Zwänglers, der Angst hat, andere zu verletzen und sich deshalb ständig "Sorgen" macht bzw. sich diverse "Einschränkungen" auferlegt.
Das "Problem" ist in einem solchen Falle nicht, dass man andere auch mal (unabsichtlich) verletzen könnte. Das eigentliche Problem ist, dass dieser Zwängler unter erheblichen Schuldgefühlen leidet - anerzogen/erlernt in der Kindheit. Dass man solche Gefühle mal haben kann, das sollte man besser akzeptieren. Das ist richtig.
Das Problem des Zwänglers ist jedoch nicht nur, dass er solche ungesunden Überzeugungen hat, sondern dass er auch nicht gelernt hat, mit solchen Gefühlen auf gesunde/natürliche Weise umzugehen. Deshalb versucht er sie zu vermeiden - koste es, was es wolle. Durch Ausleben seines Zwanges versucht er so SICH zu schützen.

Die eigentliche Lösung ist daher, sich seiner Schuldgefühle bewusst zu werden. Der Botschaften / Überzeugungen, die dahinter stehen - und dann diese Überzeugungen durch Gesündere zu ersetzen.
Dazu gehört zum einen die (kognitive) Arbeit im Hinblick auf die eigenen (kranken) Überzeugungen. Dann die Fähigkeit, Gefühle/Empfindungen überhaupt erst einmal präzise identifizieren und benennen zu können. Und schließlich auch der Umgang mit diesen /die Umwandlung dieser Gefühle in angenehmere. Dazu kann es u.a. auch erforderlich sein, dass man erst einmal Achtsamkeit erlernt und (täglich) praktiziert. Und ggf. - von Person zu Person unterschiedlich - kann es noch nötig sein sich vorher anderes Wissen / andere Fertigkeiten zu erarbeiten.
Aber dafür geht man ja schließlich auch zum Therapeuten bzw. in Kliniken.

Und wenn man dann irgendwann einmal gelernt hat, dass man nicht verantwortlich ist für andere (Erwachsene), für deren "sich-gut-fühlen" und mit seinen eigenen Gefühlen besser umgehen kann, dann braucht man auch keine Angst mehr vor Schuldgefühlen zu haben und der Zwang hat "seine Schuldigkeit getan". Man braucht ihn nicht mehr - Problem gelöst. Aber auch erst dann.
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Yorge
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Re: Nicht hilfreiche Hilfsmittel

Beitrag von Yorge »

Jetzt stelle dir einmal einen Mensch vor, der KEINE Angst vor Schuldgefühlen hat. Auf diesen grausamen Typ vom ersten Beispiel deines Beitrags, der dieser Frau das antut, könnte das zutreffen.
Das gute Leben .. ist eine Richtung, kein Ziel. [Carl Rogers]
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OCD-Marie
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Re: Nicht hilfreiche Hilfsmittel

Beitrag von OCD-Marie »

ANGST vor Gefühlen bzw. das Nicht-Fühlen-Wollen bildet die Grundlage diverser psychischer Krankheiten.

Das ist also nichts was erstrebenswert wäre.
Silvia
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Re: Nicht hilfreiche Hilfsmittel

Beitrag von Silvia »

Yorge hat geschrieben: Fr 23. Nov 2018, 06:34 Vielleicht sollte man sich gerade im “zwangsfall“ darauf besinnen, ob nicht ein Kompromiss besser wäre, nämlich für alle.

.... das wäre es mit Sicherheit !

Genau diese Beiträge von Dir, sind wie Therapiestunden für mich. Ich danke Dir dafür!
Nichts kann existieren ohne Ordnung,
nichts entstehen ohne Chaos.
Miranda_L

Re: Nicht hilfreiche Hilfsmittel

Beitrag von Miranda_L »

Yorge hat geschrieben: Fr 23. Nov 2018, 20:13 Jetzt stelle dir einmal einen Mensch vor, der KEINE Angst vor Schuldgefühlen hat. Auf diesen grausamen Typ vom ersten Beispiel deines Beitrags, der dieser Frau das antut, könnte das zutreffen.
Hallo Yorge,

ich glaube was Marie hier meint ist, dass man lernt auf gesunde Art und Weise mit Schuldgefühlen und Ängsten umzugehen.
Wenn man eine 'innere' Taktik erlernt hat, solche Gefühle zu ertragen, braucht man nicht mehr so viel Angst davor zu haben und fährt automatisch dieses übertriebene Vermeidungsverhalten etwas herunter.

Beispiel "Die Angst um das Wohlergehen des eigenen Kindes"
(Neu erlernter Umgang mit der Angst wäre hier z.B. mehr Vertrauen in die Fähigkeiten des Kindes zu haben)

Da bleibt man vielleicht immer noch in der Nähe stehen, wenn sich das Kleinkind zum 1. Mal am Klettergerüst versucht um es im Notfall fangen zu können.
Man verbietet aber dem Kind nicht 'mehr' generell, auf das Klettergerüst zu klettern.
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OCD-Marie
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Re: Nicht hilfreiche Hilfsmittel

Beitrag von OCD-Marie »

Hallo Miranda,

nimm es ruhig wörtlich, was das steht:
Angst vor Gefühlen ist niemals sinnvoll oder konstruktiv.

Dann hast du natürlich Recht. In einem ersten Schritt geht es darum, sich diesen Gefühlen zu öffnen und zu lernen, sie zu ertragen. In einem zweiten Schritt aber auch darum, sie aufzulösen und (hoffentlich endgültig) abzulegen. Damit - um in deinem Bild zu bleiben - sich das Kind völlig frei entfalten kann (die Mutter hat dann sozusagen den Kletterplatz nicht mehr im Bick).

Ich habe eine Weile nachgedacht. Aber ich finde keine Grund, der Schuldgefühle rechtfertigen würde. Im dem Sinne dass sie "positiv" oder "wünschenswert" oder "konstuktiv" seien.
Die Schuldgefühle, über die wir hier reden, das ist einfach nur Ballast aus der Vergangenheit. Destruktive Überzeugungen - noch dazu falsche - die einem das Leben zur Hölle machen können. Nichts Gutes, nichts Positives - einfach nur besch... Mist.
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Yorge
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Re: Nicht hilfreiche Hilfsmittel

Beitrag von Yorge »

Ich korrigiere mich bzw. präzisiere: Angst ist fast immer zuviel und bringt's kaum. Sorge ist gut. Allerdings im Leben niemals mehr Angst zu haben wird genau so unmöglich sein, wie ein Leben ohne Schmerz.
Schuldgefühle haben schon ihren Zweck, wenn ansonsten Menschen tatsächlich Schaden erleiden würden, aber nur dann.
Ein “Absolut-Denken“ im Sinne: keine Angst, niemals... ist meiner Ansicht nach ein wenig hilfreiches Mittel gegen den Zwang - sowas kenne ich zu gut von meiner Zwanghaftigkeit.
Das gute Leben .. ist eine Richtung, kein Ziel. [Carl Rogers]
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OCD-Marie
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Re: Nicht hilfreiche Hilfsmittel

Beitrag von OCD-Marie »

Und wenn er nicht gestorben ist, dann zwängelt er noch heute...

...also dieser Zwängler aus meinem obigen Beispiel.

Mit der "Präzisierung" von Yorge könnte das Beispiel folgendermassen weitergehen:
Der Zwängler beginnt eine Therapie, reduziert die Zwänge etwas. Muss aber feststellen, dass sie bald nach der Therapie wieder mehr werden. Er macht eine neue Therapie. Gleicher Ablauf, gleiches Ergebnis. Irgendwann steht die dritte Therapie an. Am Ende wieder ohne nennenswerten Erfolg. Dies bringt den Zwängler - der sich nun vielleicht bereits als recht "therapieerfahren" empfinden mag - unter Umständen sogar zu dem Schluss, dass alles Therapieren nichts bringt und dass man Zwänge nie mehr wieder ganz los werden kann....

Sein Dilemma dabei war (und ist), dass er in all den Jahren während all der Therapien nie sein komplettes Zwangsgebäude in Frage gestellt, sondern einen Teil davon als wünschenswert und sinnvoll aufrecht erhalten hat.
Unter diesen Vorausssetzungen wäre natürlich auch eine vierte oder fünfte Therapie am Ende zum Scheitern verurteilt. Bei Zwängen gibt es nur "entweder - oder". Man kann sie nicht zum Teil wegtherapieren wollen, andere Teile davon aber behalten. Man muss das Unkraut schon mit der Wurzel entfernen. Alles andere ist nur Energieverschwendung...

Sorge macht am Ende genauso wenig Sinn wie Angst. Das eine ist nicht besser als das andere.
Und - genau lesen muss man dann allerdings schon auch noch - es ging ja nicht um Angst im allgemeinen, sondern um die Angst vor Gefühlen !

Solange der Zwängler im obigen Beispiel Schuldgefühle als sinnvoll und damit "wichtig" erachtet, unterhält und stärkt er damit seinen Zwang. Denn sie sind ja gerade die Grundlage seines Zwanges.
Schuldgefühle können auch nicht den Zweck erfüllen, andere Menschen zu schützen. Denn sie können logischerweise erst dann entstehen, wenn ein "Schaden" bereits eingetreten ist. Vorher gibt es keinen Grund dafür.
Schuldgefühle als sinnvoll zu bezeichnen ist damit am Ende nichts anderes als die Rechtfertigung des Zwanges. Der Zwang wird als "sinnvoll" angesehen.
Das Problem dabei ist: etwas, das man als sinnvoll erachtet, gibt ja nicht gerade gerne auf.

...und so zwängelt er vermutlich bis ans Ende seine Lebens weiter...
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michael_m
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Re: Nicht hilfreiche Hilfsmittel

Beitrag von michael_m »

OCD-Marie hat geschrieben: So 25. Nov 2018, 17:10 Bei Zwängen gibt es nur "entweder - oder". Man kann sie nicht zum Teil wegtherapieren wollen, andere Teile davon aber behalten. Man muss das Unkraut schon mit der Wurzel entfernen. Alles andere ist nur Energieverschwendung...
Ich bin inzwischen auf die Erkenntnis gestoßen, dass es schon etwas jenseits von "entweder - oder" gibt.
Bei den Therapiezielen hab ich auch das Soll selbst festgelegt. Und nicht überall endet es ohne jegliche Kontrolle, insofern ist in den Zielen ein gewisser "Restzwang" enthalten.

Wobei es auf die Betrachtung ankommt, was man als Zwang definiert. Viele Menschen zeigen zwanghafte Muster, nicht jeder davon hat eine Zwangsstörung. Z. B. sehe ich öfters Kollegen, die nochmal zum Auto zurückgehen und kontrollieren.
Ohne persönlichen Leidensdruck gibt es die Diagnose "Zwangsstörung" nicht. Und Ziel muss in meinen Augen sein, diesen Leidensdruck zu verringern. Wenn eine Person z. B. es für sinnvoll hält, vor dem Verlassen den Herd zu kontrollieren, so ist das nicht krankhaft. Und dieser "Restzwang" auch in Ordnung.
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OCD-Marie
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Re: Nicht hilfreiche Hilfsmittel

Beitrag von OCD-Marie »

"Bei den Therapiezielen hab ich auch das Soll selbst festgelegt. Und nicht überall endet es ohne jegliche Kontrolle, insofern ist in den Zielen ein gewisser "Restzwang" enthalten."
Natürlich sollst du selbst die Ziele vorgeben. Ansonsten würde man dich ja u.U. gegen deinen Willen therapieren. Und das funktioniert nur seltenst. Du kannst die Ziele lasch und zögerlich setzen. Die Therapeuten werden dich dabei begleiten (nach dem Motto: "etwas" ist immer noch besser als gar nichts). Du kannst die Ziele aber auch ambitioniert setzen - auch hierbei werden dich die Therapeuten begleiten (vermutlich sogar mit mehr Einsatz und Engagement...).
Die Frage ist immer: WAS will ich am Ende ? Ein bisschen reduzieren - oder vielleicht doch "ein neues Leben" ?
"Wobei es auf die Betrachtung ankommt, was man als Zwang definiert. Viele Menschen zeigen zwanghafte Muster, nicht jeder davon hat eine Zwangsstörung. Z. B. sehe ich öfters Kollegen, die nochmal zum Auto zurückgehen und kontrollieren."
Das ist die objektive Handlung, rein "von außen" betrachtet. Natürlich soll ein Waschzwängler nicht zum Ziel haben, sich künfig überhaupt nicht mehr zu waschen und nur noch schmutzig und stinkend durchs Leben zu gehen. Das ist ja klar. Ob Zwang oder nicht, darüber entscheidet am Ende die innere Haltung, die Sichtweise, die mit der Handlung verbunden ist.
Jeder sollte sich waschen. Der Unterschied zwischen Zwang und Nicht-Zwang liegt jedoch darin, aus welchem Antrieb/mit welcher Motivation man das tut. Und vor allem wie man damit umgehen kann, wenn man es mal vergisst oder nicht tun kann.
"Ohne persönlichen Leidensdruck gibt es die Diagnose "Zwangsstörung" nicht. Und Ziel muss in meinen Augen sein, diesen Leidensdruck zu verringern. Wenn eine Person z. B. es für sinnvoll hält, vor dem Verlassen den Herd zu kontrollieren, so ist das nicht krankhaft. Und dieser "Restzwang" auch in Ordnung."
Zwang bleibt Zwang. Ob nun "im Kleinen" oder "im Großen". Solange man "den Pfad des Zwangs" weiter beschreitet bleibt ein erhöhtes Risiko, dass sich - wenn die Bedingungen günstig sind - alles wieder verschlimmert. Darüber muss man sich im klaren sein. Da hilft auch kein "es-sich-schön-reden" oder "es-reicht-schon-aus-wenn"...
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