Best-case-Szenarien und Therapieempfehlungen

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Kastanie
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Registriert: Do 9. Jul 2020, 22:37

Best-case-Szenarien und Therapieempfehlungen

Beitrag von Kastanie »

Liebe Forumsmitglieder,

ich habe ein paar Fragen, die sich wahrscheinlich hauptsächlich an Zwangserkrankte richten, aber vielleicht bekomme ich ja auch von einigen Angehörigen Feedback – über beides würde ich mich sehr freuen.

(Wem der Beitrag zu lang ist, der kann gerne auch gleich nach unten zu den Fragen springen :-))

Mein Freund leidet seit ca. 15 Jahren an einer Zwangserkrankung. Ich kenne mich nicht besonders mit Kategorien von Zwängen aus, aber bei ihm sind es hauptsächlich Wiederholungs-/Kontrollzwänge (oft auf Basis optischer Eindrücke, die er zu rekonstruieren versucht und dadurch Handlungen wiederholt; d.h. keine Wiederholung von quasi-sinnvollen Handlungen, wie es anscheinend bei anderen Kontrollzwängen oft der Fall ist) sowie Erinnerungszwänge (er muss beispielsweise ganz nebensächliche Dinge rekonstruieren, die jemand im Gespräch gesagt hat).
Gibt es jemanden hier im Forum, der Erfahrungen mit ähnlichen Arten von Zwängen gemacht hat? Ich habe hier ein bisschen im Forum herumgelesen, hatte aber den Eindruck, dass viele hier eher von anderen Formen betroffen sind.

Zu Beginn der Erkrankung (das war noch "vor meiner Zeit") war mein Freund so durch die Krankheit eingeschränkt, dass er für viele alltägliche Dinge Stunden gebraucht hat und manche Dinge (viele Putzarbeiten, Müll wegwerfen, Unterlagen sortieren) gar nicht machen konnte, weil es ihn in krasse Zwangsschleifen gebracht hat. Er musste auch sein Studium ab- bzw. unterbrechen, weil z.B. auch lesen super schwierig für ihn war. Er hat dann eine Therapie gemacht (allerdings bei einem Therapeuten, der dezidiert nicht auf Zwänge spezialisiert war, und es war eine Gesprächstherapie, was ja anscheinend nicht state of the art für Zwänge ist (? – dazu später noch eine Frage)). Die Therapie hat ihm gut geholfen, d.h. es hat eine starke Verbesserung gegeben, so dass er den Alltag wieder ziemlich gut meistern konnte und sogar sein Studium abschließen und als Lehrer arbeiten konnte (wenn auch mit starker Zwangsbelastung z.B. beim Korrigieren). Zudem hat er auch ein paar Jahre Sertralin genommen, aber das hat ihm gar nicht geholfen und er hat es nach Absprache mit dem Psychiater schließlich wieder abgesetzt (ohne Verschlechterung).

Nun ist es allerdings so, dass mein Freund sich (auf diesem deutlich gebesserten Niveau) immer noch stark belastet von den Zwängen fühlt. Es gibt selten mehrere Stunden am Stück, in denen er zwangsfrei ist – und an manchen Abenden gerät er immer noch in so starke Zwangsschleifen, dass er mehrere Stunden am Stück komplett "ausgeknockt" ist. Diese persönlich gefühlte direkte Belastung (zusammen mit dem Wunsch, dass unser zweijähriger Sohn, der jetzt immer mehr mitbekommt, ihn nicht zu häufig "rumzwängeln" sieht) haben jetzt dazu geführt, dass mein Freund überlegt, es noch mal mit einer Therapie zu versuchen. In diesem Zusammenhang hat er mir ein paar "Rechercheaufträge" gegeben, da die Suche im Internet für ihn auch häufig sehr zwangsbelastet ist.

Eine Frage, die ihn beschäftigt, ist die nach Erfolgsgeschichten bzw. Best-case-Szenarien bei der Therapie von Zwangserkrankungen. Ist es zum Beispiel möglich, eine Zwangserkrankung (praktisch) vollständig loszuwerden? Ist das hier jemandem passiert? Oder habt ihr von solchen Fällen gehört? Wenn ja, um welchen Typ von Zwängen handelte es sich?
Ich glaube, die Absicht hinter diesen Fragen ist die Vermutung oder Befürchtung, dass der aktuelle Zustand meines Freundes schon der beste für ihn zu erreichende sein könnte und eine erneute Therapie sich nicht lohnen würde.

Eine zweite Frage ist die nach passenden Therapeuten. Wenn ich richtig informiert bin, ist kognitive Verhaltenstherapie (bzw. konkreter: Exposition und Reaktionsvermeidung) die Methode der Wahl für die Therapie von Zwangserkrankungen – könnt ihr das bestätigen? Oder habt ihr auch gute Erfahrungen mit anderen Therapien gemacht? Muss man bei der Wahl der Therapieform eigentlich auch nach Art der Zwänge unterscheiden? Wenn ja, hat eventuell jemand Tipps für die oben beschriebene Art von Zwängen?
Und schließlich: Wie finde ich geeignete Therapeuten, die wirklich auf die Therapie von Zwangserkrankungen spezialisiert sind (und das nicht nur als eins von fünfzehn "Spezialgebieten" angegeben haben)? Kann womöglich sogar jemand einen guten Therapeuten in Hamburg oder Umgebung empfehlen?

Vielen Dank im Voraus und liebe Grüße,
Kastanie
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Antonia
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Wohnort: Hamburg

Re: Best-case-Szenarien und Therapieempfehlungen

Beitrag von Antonia »

Hallo Kastanie!

Ich selbst habe 30 Jahre an einer Zwangsstörung gelitten. Ich habe mir zwanghaft die Kopfhaare ausgerissen. Begonnen hat es mit 11 Jahren. Das war in den 70iger Jahren, wo es noch kaum Hilfe gab.
Gerissen habe ich immer, wenn ich gestresst war, starke Emotionen hatte, die sowohl positiv als auch negativ waren, wenn ich Langweile hatte oder sehr perfektionistisch war. Das Reißen an meinen Haaren hat mich beruhigt, mir gut getan. Auch wenn bald kahle Stellen zu sehen waren, konnte ich nicht damit aufhören. Für meine Eltern und später für meinen Partner, war es schwer zu verstehen und auszuhalten. Trotzdem haben alle immer zu mir gestanden.
Mit 25 Jahre habe ich eine erste Verhaltenstherapie gemacht, wo der Zwang aber nie angegangen wurde, sondern mein Selbstbewusstsein und mein Selbstvertrauen gestärkt wurde. Es ging mir zwar besser, aber der Zwang blieb.
Drei Jahre später ging ich in eine Klinik, die tiefenpsychologisch arbeitete und sich mit Zwängen gar nicht aus kannte. Dort gab man meinen Eltern die Schuld dafür und empfahl mir mich von ihnen und meinem Partner zu trennen. Ich habe es zum Glück nicht getan aber es ging mir super schlecht. Von da an, hab ich angefangen mit meinen Zwängen zu leben.
10 Jahre später habe ich dann von einer Studie am UKE erfahren, die genau zu meinen Zwängen forschte. An der Studie habe ich teilgenommen. Habe Medikamente bekommen und dann dort eine ambulante Verhaltenstherapie gemacht. Hier lernte ich meine Auslöser kennen , lernte nein zu sagen, von meinem hohen Ansprüchen runter zu kommen, meinen Tag besser zu strukturieren und erlernte Strategien gegen meinen Zwang. Heute, nach mehr als 20 Jahren bin ich immer noch symptomfrei.
Ich sage bewußt nicht geheilt, weil es sein kann, dass der Zwang in einer sehr belastenden Situation wieder hoch kommt. Aber ich bin froh, dass ich die Therapie gemacht habe. Heute leite ich zei Selbsthilfegruppen für Zwangsstörung und 1 Gruppe für Angehörige in HH und bin seit 16 Jahren Vorsitzende der Deutschen Gesellschaft Zwangserkrankungen e.V.
Wenn eine Zwangsstörung sehr lange besteht, ist sie meistens schon chronisch. Aber mit einer Verhaltenstherapie kann trotzdem immer noch mehr Lebensqualität zurück gewinnen. Dein Freund sollte es noch mal probieren und nicht den Mut verlieren.
Geeignete Therapeuten in und um Hamburg erfahrt ihr in unserer Geschäftsstelle telefonisch: Mo-Fr. 10-12 Uhr unter 040 689 13 700.
Liebe Grüße und alles Gute,
Antonia.
Ich bin nicht auf der Welt, um so zu sein, wie andere mich haben wollen. ;)
Kastanie
Beiträge: 3
Registriert: Do 9. Jul 2020, 22:37

Re: Best-case-Szenarien und Therapieempfehlungen

Beitrag von Kastanie »

Liebe Antonia,

ganz herzlichen Dank für die Antwort, deinen Erfahrungsbericht und die Telefonnummer! Das wird uns bei der Therapeutensuche sicher weiterhelfen!

Viele Grüße,
Kastanie
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