Wie unangenehm muss das Unterlassen von Zwangshandlungen sein, um den Zwang abzutrainieren?

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Leon
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Wie unangenehm muss das Unterlassen von Zwangshandlungen sein, um den Zwang abzutrainieren?

Beitrag von Leon »

Hallo,

Es geht um meine Schwester (21), die seit ca. 8 Jahren unter einem Waschzwang leidet und darum, wie meine Mutter und ich (Bruder, 25) mit ihr und ihrem Zwang umgehen. Ich würde mich sehr freuen, wenn Sie mir Ihre Meinung zu der im Folgenden beschriebenen Situation mitteilen könnten.

Wir wohnen aktuell als Familie zusamme, d.h. es sind auch noch 5 weitere Geschwister (11 bis 19) und mein Vater mit im Haus. In den letzten Jahren hat meine Schwester alleine gelebt und studiert, aber seit etwa einem Jahr lebt sie wieder bei der Familie (so wie auch ich). Sie nimmt aktuell ein Urlaubssemester.

Meine Schwester benötigt für ihre Zwangshandlungen jeden Tag sehr viel Zeit und Energie. Besonders das bettfertig machen abends im Bad ist ein Problem, weil sie zum einen ungerne ins Bad geht und zum Anderen dort lange braucht, was zu viel zu spätem ins Bett gehen führt, wenn sie nicht angetrieben wird. Zusätzlich hat sie auch abseits der Zwangshandlungen relativ wenig Antrieb "produktive" Dinge zu tun (vormittags hat sie noch mehr Antrieb als nachmittags).

Wir halten es für unwahrscheinlich, dass sie selbständig und längerfristig ein einigermaßen glückliches Leben mit dem Zwang führen kann. Irgendetwas muss also getan werden.

Wir haben auf zwaenge.de und in dem Buch "Der Zwang in meiner Nähe"(1. Ausgabe von 2008) gelesen, dass die "Verhaltenstherapie mit Exposition" empfohlen wird. Das Prinzip der Therapie haben wir folgendermaßen verstanden: Die zwangserkrankte Person muss ihre Zwangshandlungen unterlassen bzw. einschränken und den damit einhergehenden Widerstand des Zwangs in ihrem Kopf aushalten, damit sie im Nachhinein die Erfahrung machen kann, dass die vom Zwang geforderten Handlungen überflüssig waren.

Die erste Folge aus dieser Information:
  • Wir haben eine Therapie und einen Klinikaufenthalt organisiert.
  • In der Therapie befindet sich meine Schwester mit der Therapeuthin noch in der "Kennenlern-Phase" aber vermutlich wird sie den im Folgenden geschilderten Konflikt auch bald mit der Therapeutin besprechen.
  • Wir vermuten, dass der Klinikaufenthalt in spätestens 3 Monaten beginnen kann.
  • Meine Schwester war auch früher schon bei Therapeuten und in einer Klinik aber die Verhaltenstherapie mit Exposition wurde dabei nie angewandt.
Die zweite Folge:
  • Wir versuchen meine Schwester dazu zu "trainieren" ihre Zwangshandlungen zu unterlassen.
  • Einerseits damit sie irgendwann ohne Hilfe den Zwang "in Schach halten kann",
  • und andererseits, damit der Zwang nicht jeden Tag zu viel Zeit frisst und sie auch noch produktiv sein kann.

Nun haben meine Mutter und ich sehr verschiedene Vorstellungen davon, wie dieses "Training" und diese "Beschleunigung" meiner Schwester funktionieren und ablaufen soll. Vereinfacht beschrieben:

Meine Mutter:
  • Versucht meine Schwester durch wiederholtes und energisches Auffordern dazu zu bringen, Zwangshandlungen abzubrechen.
  • Bei vielen Handlungen soll meine Schwester bis zu einer bestimmten Zahl zählen um die Handlung dann abbzubrechen. Das Zählen soll sie einerseits aus dem "Gedankentunnel" des Zwangs raushalten und andererseits eine Zielvorgabe sein.
Ich:
  • Fordere meine Schwester auch zum Abbrechen auf, aber weniger energisch.
  • Außerdem versuche ich meine Schwester dazu zu bringen, dass sie sich immer wieder selbstständing vornimmt eine Zwangshandlung zu verkürzen.
  • Da mein Vorgehen mehr Zeit benötigt als das meiner Mutter, breche ich bestimmte Zwangshandlungen meiner Schwester ab. D.h. meistens mache ich ihr den Wasserhahn aus. Hier versuche ich zu einem Zeitpunkt abzubrechen bei dem meine Schwester noch nicht selber abbrechen kann aber der Widerstand des Zwangs auch nicht mehr so stark ist.
Hier nochmal ein Versuch die Unterschiede zwischen den Vorstellungen von meiner Mutter und mir zu beschreiben:

Meine Mutter:
  • Meine Schwester soll Alles selber machen.
  • Die Verkürzungen der Zwangshandlungen und die Bereitschaft zur Mitarbeit von meiner Schwester sollen sichtbar sein.
  • Es muss schnell gehen.
  • Meiner Schwester währenddessen immer wieder energisch zu sagen "Du musst das jetzt machen!" ist ein adäquates Mittel.
Ich:
  • Meine Schwester muss nicht alles selber machen aber sie soll vor jedem Vorhaben (z.B. Hände waschen) laut sagen, ob und wenn ja, welche Zwangshandlungen sie verkürzen will. Sie soll also die Zwangshandlung im Vorhinein "planen".
  • Die Bereitschaft zur Mitarbeit von meiner Schwester soll sichtbar sein, aber Verkürzungen müssen nicht unbedingt sichtbar sein. Ich verlasse mich darauf, dass sie sich tatsächlich angestrengt hat, wenn sie das behauptet.
  • Wenn es am Ende länger dauert ist das auch ok. Zum Ausgleich breche ich manche ihrer Zwangshandlungen ab (z.B. durch Wasserhahn ausmachen).
  • Was ich zu ihr sage geht eher in die Richtung von "Auf gehts! Du musst dich anstrengen!"
Das Ganze hat also auch etwas damit zu tun, wie sehr wir den Aussagen meiner Schwester glauben (z.B. wenn sie behauptet, dass sie sich anstrengt). Dieses Vertrauen wird durch die Folgenden Beobachtungen geschwächt:
  • Während der Zwangshandlungen entsprechen ihre Willensäußerungen regelmäßig den Zwangsbedürfnissen. Sie sagt also oft dass sie Dinge will, die eigentlich der Zwang will.
  • Abseits des Zwangs zeigt sie eher wenig Antrieb Dinge zu tun, die ihr Leben voran bringen würden. Ihre "Lieblingsbeschäftigungen" sind leider Videos gucken und Essen.
  • Sie will grundsätzlich schon den Zwang loswerden, aber scheut tendenziell die Anstrengung des Zwang-Aushaltens.

Ich will noch dazu sagen, dass meine Mutter deutlich gereizter und ungeduldiger mit meiner Schwester umgeht als ich. Das ist sicherlich unter anderem dem Umstand geschuldet, dass meine Mutter jeden Tag sehr viel für die Familie arbeitet und ihre eigene psychische Gesundheit dafür zurückstellt. Ich unterstelle ihr aber auch, dass sie uneinsichtig ist, weil sie seit Jahren von meiner Schwester verlangt im Kampf gegen den Zwang motivierter zu sein, obwohl sich da bei meiner Schwester seit Jahren nichts geändert hat. Andererseits muss man hier aber auch sagen, dass meiner Mutter keine andere Perspektive bleibt. Jedes Szenario in dem sich meine Schwester für den Rest ihres Lebens nicht oder "nur halbherzig" gegen den Zwang wehrt, erscheint meiner Mutter unerträglich.


Mich persönlich belastet die Art und Weise wie meine Mutter mit meiner Schwester umgeht. Meine anderen Geschwister belastet das auch, aber ich bin möglicherweise besonders "betroffen", weil ich mich zu einem gewissen Grad in der Verantwortung sehe, meine Schwester und Geschwister vor meiner Mutter zu "beschützen". Deshalb will ich der Belastung auch nicht ausweichen indem ich ausziehe. Meine Mutter ist so oder so vom Zwang meiner Schwester belastet, aber der Konflikt mit mir ist für sie natürlich auch nicht schön (für mich auch nicht).


Was sind Ihre Erfahrungen mit der "Verhaltenstherapie mit Exposition"?
Was kann einen dazu motivieren die Therapie durchzuhalten?

Vielleicht können Sie mir auf einer Skala von 1 bis 5 sagen, wie weit man gehen muss, um den Zwang abzutrainieren?
  • 1 = Es muss nur kurz unangenehm sein. Z.B. wie das Einnehmen eines Teelöffels bitterer Medizin
  • 2 = ...
  • 3 = Es muss deutlich unangenehm sein und das muss man auch eine kurze Zeit lang aushalten. Es ist aber nicht so schlimm, dass man sich danach noch kurzzeitig schlecht fühlt.
  • 4 = ...
  • 5 = Es muss sich im eigenen Kopf alles dagegen sträuben, sodass man am liebsten ausrasten würde. Im Nachhinein braucht es noch ein bisschen bis einen das unangenehme Zwangsgefühl vollständig verlässt.
Und wie oft sollte man trainieren?
  • 1 = Einmal pro Woche eine spezifische Zwangshandlung angehen. Beim Rest keinen Widerstand gegen den Zwang leisten.
  • 2 = ...
  • 3 = Sich jeden Tag eine bestimmte Zwangshandlung vornehmen und dort besonders viel Widerstand leisten. Beim Rest so viel machen, wie man gerade Kraft hat.
  • 4 = ...
  • 5 = Möglichst jede Zwangshandlung zu jeder Zeit so stark wie möglich unterdrücken.
Wie viel Antreiben durch uns Angehörige ist sinnvoll?
  • 1 = Nicht Antreiben. Was die Zwangserkrankte nicht aus eigenem Willen schafft, bringt langfristig nichts.
  • 2 = Dabei sein, aber nichts sagen. (Zumindest bei meiner Schwester beschleunigt das bereits die Zwangshandlungen.)
  • 3 = Immer wieder freundlich dazu auffordern Widerstand gegen den Zwang zu leisten.
  • 4 = ...
  • 5 = Die Zwangserkrankte so weit treiben wie möglich, auch wenn sie aus eigenem Willen nie so sehr gegen den Zwang handeln würde.

Falls die von mir beschriebenen Abstufungen überhaupt nicht mit Ihren Vorstellungen überein stimmen, freue ich mich natürlich genauso, wenn Sie Ihre Meinung in anderer Form in Worte fassen.


Vielen Dank für Ihre Antwort!


P.S.: Ich weiß, eigentlich sind wir zu Nahe dran und sollten das Alles überhaupt nicht versuchen sondern "den Therapeuten" überlassen. Aber zum Einen halten wir (besonders meine Mutter) es nicht aus, meine Schwester einfach machen zu lassen und zum Anderen hat meine Mutter auch nicht viel Vertrauen in Ärzte (im weitesten Sinne) aufgrund verschiedener negativer Erfahrungen. Im Endeffekt muss meine Schwester es halt doch selber machen, ob mit Therapeut oder mit uns.
Jessi
Beiträge: 284
Registriert: Fr 22. Mai 2020, 19:55

Re: Wie unangenehm muss das Unterlassen von Zwangshandlungen sein, um den Zwang abzutrainieren?

Beitrag von Jessi »

Hey!

Ich schreibe zwar aus der Sicht einer Betroffenen, lese aber gerne überall mit.
Ich persönlich habe die Erfahrung gemacht, dass es durch Druck deutlich schlimmer wird. Man darf sich selbst nicht unter Druck setzen und muss lernen Unsicherheiten auszuhalten. Sobald noch mehr Druck von Außen kommt, kann es sein, dass das gute Vorhaben eher ins Gegenteil umschlägt.
Ich würde raten, einfach als Stütze zur Seite zu stehen und den Zwang nicht zu unterstützen. Mit Rat und Tat zur Seite stehen, sie eventuell ins Hier und Jetzt zurückholen, sodass Gedankenketten unterbrochen werden und zu motivieren.
Man kann leider nicht so viel helfen, da es eher ein innerer Kampf ist, den man schwer nachempfinden kann. Es hilft aber enorm wenn man sich nicht alleine fühlt und die Familie die Krankheit als solche anerkennt.

Auf jeden Fall ist es die richtige Art der Therapie und es kann sehr gute Erfolge erzielen.

LG Jessi
downtherabbithole
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Re: Wie unangenehm muss das Unterlassen von Zwangshandlungen sein, um den Zwang abzutrainieren?

Beitrag von downtherabbithole »

Ich kann mich Jessi voll und ganz anschließen. Ich bin auch selber Betroffen, kenne aber auch ein bisschen die andere Seite, weil ich mal mit jemand in einer Partnerschaft war, der Gedankenzwänge hatte. Es ist furchtbar, jemanden der einem so wichtig ist, so leiden zu sehen.

Ich schreibe dir einfach mal was mir hilft mich zu motivieren etwas zu ändern und hilft Ängste zu überwinden:
- wenn man mich um etwas bittet (aber nicht flehen, eher so was wie: Bitte nimm deine Medikamente)
- wenn man mir beisteht indem man sagt das schaffst du schon (aber nicht zu oft, das kann sonst wieder wie Druck wirken)
- freundliche aber bestimmte NEINs wenn ich jmd in meine Zwangshandlung einbeziehen möchte
- Kompromisse
- wenn man mir sagt und zeigt dass man mich lieb hat und mit meiner Erkrankung akzeptiert und annimmt
- wenn man mir sagt, dass man sich Sorgen macht (weil das möchte ich auf keinen Fall!)
- wenn man mich fragt wie ich mir das vorstelle
- wenn man versucht mich zu verstehen
- wenn man mich fragt wie man mich unterstützen kann
- wenn man mir sagt, dass man für mich da ist

Was mir gar nicht hilft und die Situation (kurzfristig) verschlechtert:
- Streit
- Druck
- Vorwürfe
- Stress
- wenn man sich zuviele Sorgen macht und mir nichts zutraut
- Mit-Ausführen meiner Zwangshandlungen oder gar für mich ausführen (Das füttert den Zwang und hilft nur kurz und nicht auf Dauer)
- Du musst Sätze - der Zwang spinnt schon so rum im Hirn, da brauch ich nicht noch jemand anderen der mir was aufzwingt ;)
- Vorschläge wie mach Sport, meditiere, achte auf deine Ernährung blabla
- wenn man mich auf jede Zwangshandlung anspricht

Ich finde es bemerkenswert wieviel du geschrieben hast und das zeigt wie wichtig dir deine Schwester ist. Ob die einzelnen Sachen helfen kann man als Außenstehender schlecht beurteilen, weil man die Situationen nicht ganz nachvollziehen kann und nicht weiß was bei deiner Schwester im Kopf vorgeht. Wie es sich anfühlt seine Angst zu überwinden, bzw anfühlen muss, lässt sich schwer sagen, weil sich nicht jede Überwindung gleich an fühlt. Manche gehen besser, manche schlechter, manchmal hält das Gefühl länger an manchmal weniger lang. Danach kannst du also gar nicht messen. Zwänge sind wirklich komplex, deswegen finde ich schon auch ganz richtig, was du ganz unten im PS geschrieben hast. :)

Ich mache übrigens momentan Kompromisse mit meinem Freund und verkürze und veränderte dadurch manche Handlungen ins Positive. Aber durch Kompromisse gehen die Zwänge nicht komplett weg und die Gedanken auch nicht. Wir haben gerade quasi diesen Deal damit ich halbwegs klarkomme bis meine Expositionsübungen in der Therapie anfangen und er sich nicht so viele Sorgen machen muss. Allerdings bin ich so momentan sehr abhängig von ihm.

Bei deinem Text habe ich mich die ganze Zeit gefragt, was denn deine Schwester zu alldem sagt und was ihre Meinung ist was hilft? Wie geht es ihr damit?
welltemperedmind
Beiträge: 89
Registriert: Di 2. Feb 2021, 11:37

Re: Wie unangenehm muss das Unterlassen von Zwangshandlungen sein, um den Zwang abzutrainieren?

Beitrag von welltemperedmind »

Auch ich kann mich meinen Vorpostern nur anschließen und möchte noch einige Punkte ergänzen.

Ich persönlich bin fest davon überzeugt, dass die es nur eine Änderung geben kann, wenn die Motivation dazu vom Betroffenen selbst ausgeht. Der Betroffene selbst muss eine neue Einstellung zu seinem Zwang entwickeln (Kognitive Therapie) und diese anschließend mit Expositionen und Reaktionsverhinderung in die Praxis umsetzen (Verhaltenstherapie).

Für Außenstehende und auch unerfahrene Therapeuten ist es kaum nachvollziehbar, wie es einem Betroffenen geht, daher ist die meiste gut gemeinte Hilfe für Betroffene nicht hilfreich oder gar kontraproduktiv. Beispielsweise hilft es aus meiner Sicht nicht, gemeinsam mit dem Betroffenen daran zu arbeiten, seine Zwangshandlungen aufzugeben (Verhaltenstherapie), wenn nicht zuvor alte Glaubenssätze und Fehlbewertungen in der Kognitiven Therapie aufgelöst wurden und der Betroffene selbst noch nicht die Motivation und den Glauben hat, dass eine Exposition für ihn selbst der beste Weg aus dem Zwang heraus ist. Das Thema Motivation wird bspw. im Buch "Zwänge bewältigen" von Burkhard Ciupka-Schön ausführlicher besprochen. Für ihn ist es ein Kernbestandteil der Therapie.

Weil Familienmitglieder in der Regel keine Zwangsexperten sind, halte ich es für nicht zielführend, wenn sie Expositionen und Reaktionsverhinderung mit dem Betroffenen üben. Was sie stattdessen machen können:
- Alles, was meine Vorposter gesagt haben
- Keine Zwangshandlungen / Rückversicherungen etc. unterstützen
- Motivieren und an den Betroffenen glauben (aber nicht drängen)
- Hilfe anbieten, aber nur wenn sie dem therapeutischen Prozess dient (nicht, wenn sie dem Zwang dient). Wie bspw.: Informationen suchen, zur Therapie fahren und abholen
- Wenn deine Schwester euch bittet, bei Expositionen dabei zu sein, könnt ihr das machen

Am Ende muss der Betroffene selbst seinen Zwang überwinden. Das kann niemand anders für ihn tun. Helfen sollte ihm dabei die Therapie. Leider ist es aber in Deutschland so, dass Zwänge in der Regel nicht leinliniengerecht mit Expositionen und Reaktionsverhinderung therapiert werden (habt ihr ja bereits an eigenem Leib erfahren). Es ist die traurige Wahrheit, dass man im Zweifel als Betroffener keine richtige Hilfe bekommt. Aber: Es gibt zum Glück sehr viel gute Selbsthilfeliteratur, die von erfahrenen Spezialisten und Psychotherapeuten verfasst wurde und sich an wissenschaftlichen Erkenntnissen orientieren.

Ich persönlich freue mich sehr, dass du dich so sehr um deine Schwester sorgst und dich auch umfassend zum Thema informierst. Und ich freue mich auch sehr, dass ihr Expositionen mit Reaktionsverhinderung in Angriff nehmt - denn das ist der sicherste Weg aus dem Zwang heraus. Das Problem ist, dass der Zwang extrem trickreich sein kann und man bei diesen Expositionen sehr viele Fehler machen kann.

Meine Empfehlungen sind daher wie folgt:
- Sucht zusammen mit eurer Schwester einen Therapeuten, der auf Zwänge spezialisiert ist. Die meisten Therapeuten bieten die Behandlung von Zwängen an, sind aber vermutlich weniger erfahren als ihr es bereits selbst (immerhin wisst ihr bereits, dass man Expositionen machen muss. In der Therapie wird meistens hingegen nur geredet - traurig aber wahr). Ich habe keine Erfahrung mit Kliniken, aber habe mir sagen lassen, die die stationäre Betreuung in Kliniken meist verhältnismäßig gut sein soll.
- Falls ihr keinen passenden Therapeuten findet, dann sollte sich deine Schwester mit guten Selbsthilfebüchern weiterbilden. In englischer Sprache kann ich beispielsweise "Freedom from Obsessive-Compulsive Disorder" empfehlen - das aus meiner Sicht beste Buch für die Selbsttherapie. Alternativen in deutscher Sprache wären beispielsweise das genannte Buch von Burkhard Ciupka-Schön oder Bücher von Susanne Fricke. Beide sind anerkannte praktizierende Spezialisten auf dem Gebiet Zwang.

Ansonsten schließe ich mich auch der Frage meiner Vorredner an. Was sagt denn deine Schwester zu alldem?



Edit: Um auch nochmal auf alle deine Fragen einzugehen:

Was sind Ihre Erfahrungen mit der "Verhaltenstherapie mit Exposition"?
Sehr gut! Bedingung: Kognitive Vorarbeit.

Was kann einen dazu motivieren die Therapie durchzuhalten?
Wie oben geschrieben denke ich, dass kognitive Vorarbeit notwendig ist. Beliebte Verfahren sind beispielsweise eine Kosten-Nutzen-Analyse (was bringt mir der Zwang und was kostet er mich vs. Was bringt mir die Therapie und was kostet sie mich). Die Aufgabe des Zwanges ist mit hohen Kosten verbunden (Therapie ist anstrengend und man akzeptiert, dass seine schlimmsten Befürchtungen wahr werden könnten). Das Ziel ist, dass der Betroffene selbst alle Vor- und Nachteile erkennt und sich dennoch für die Therapie entschließt. Dann hat er auch Motivation.

Vielleicht können Sie mir auf einer Skala von 1 bis 5 sagen, wie weit man gehen muss, um den Zwang abzutrainieren?
Es gibt hier generell zwei verschiedene Methoden: Flooding (hier geht man direkt auf das höchste Anspannungsniveau) oder graduierte Exposition (man geht immer auf Trigger, die mittelstark sind). Beide Verfahren sind anerkannt. Meist entscheidet der Betroffene selbst, was ihm passt.

Und wie oft sollte man trainieren?
Aus meiner Sicht so oft wie möglich. Exposition und Reaktionsverhinderung muss zu einem Teil des Alltags werden. Jonathan Grayson macht bspw. ein 5-wöchiges Programm und empfiehlt währenddessen 2 Stunden aktive Exposition am Tag. Klingt viel - aber wie viel Zeit verwendet man sonst auf den Zwang?

Wie viel Antreiben durch uns Angehörige ist sinnvoll?
Aus meiner Sicht gar nicht. Antreiben nein, Unterstützung ja.
Nasdaq
Beiträge: 17
Registriert: Mi 18. Apr 2018, 12:28

Re: Wie unangenehm muss das Unterlassen von Zwangshandlungen sein, um den Zwang abzutrainieren?

Beitrag von Nasdaq »

Es ist ja schön, daß ihr helfen wollt.

Aber in dem ellenlangen Texte fehlt mir eine Person: Die Schwester.
Wie unangenehm muss das Unterlassen von Zwangshandlungen sein, um den Zwang abzutrainieren?
Deine Schwester muß beurteilen, ob diese oder jene Methode gerde noch aushaltbar für sie ist.

Um das zu Beurteien,, muß man auch erst ma herusfinden wieviel Anstrengung sie ashaten kann und will.

Und erst dann kann man damit beginnen Zievereinbarungen zu treffen.

Mit freundlichen Grüßen

Nasdaq
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JuliaMaria08
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Re: Wie unangenehm muss das Unterlassen von Zwangshandlungen sein, um den Zwang abzutrainieren?

Beitrag von JuliaMaria08 »

Hi!

Ich konnte mir leider nicht alle Beiträge über mir durchlesen aus Zeitgründen, daher wiederhole ich eventuell, was schon einige vor mir gesagt haben.

Aus meiner persönlichen Erfahrung ist das Abtrainieren des Zwangs durch Exposition anfangs ein reiner Horror. Im Kopf geht durch das plötzliche Nichtausführen des Zwangs das Alarmsignal los und sämtliche Ängste von "Ich werde sterben" oder "meinen Liebsten passiert etwas Schreckliches" sind da dabei. Dabei entsteht ein Druck auf der Brust, weil man eben sehr stark gegen Dinge kämpft, die man sonst getan hätte bzw. die einem Sicherheit und Erleichterung bringen (Zwangshandlungen). Ich habe damals in einem Urlaub damit angefangen und das war auch sehr gut - dadurch musste ich die Zwänge nicht während einer Zeit aushalten, in der ich mich konzentrieren musste. Irgendwann hatte ich aber wieder Uni und musste ein bisschen schlechtere Konzentration wegstecken, andererseits ist die Konzentration natürlich langfristig viel mehr gegeben, weil die Zwänge dann irgendwann verschwinden. Aber das Ausmaß, wie schwer es für eine Person ist, sich den Zwängen zu stellen, sollte nicht unterschätzt werden. Soweit ich weiß, ist für manche die Exposition auch nicht das beste Mittel.

Bezüglich deiner Schwester schließe ich mich den anderen an: Sie muss selbst entscheiden, wann sie bereit ist, die Zwänge abzulegen. Und das hat nichts mit einer einfachen Entscheidung zu tun, sondern eher mit einer Entwicklung. Bei mir wäre das ohne vorherige Behandlung in einer Therapie auch gar nicht gegangen. Nach einem halben Jahr wöchentliche Therapie habe ich mich dann entschlossen, mich dem zu stellen (aber auch ganz einfach aus dem Grund, dass man in der Therapie Dinge aufarbeitet und dadurch bestimmte Emotionen nicht mehr so stark sind. Wäre das nicht der Fall gewesen, hätte ich mich den Zwängen nicht stellen können, weil es einfach zu schlimm gewesen wäre.)

Ich wünsche deiner Schwester und natürlich auch deiner Familie, dass bald eine Besserung eintritt.

Herzliche Grüße
Julia
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