Zwang & Behinderung

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Juvo
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Zwang & Behinderung

Beitrag von Juvo »

Hallo zusammen,

ich hoffe, ich eröffne jetzt kein doppeltes Thema, aber über die Suche habe ich nichts gefunden. Es geht um Anerkennung einer Zwangserkrankung als Behinderung. Ich habe schon mehrfach davon gehört und auch jetzt gerade wieder von einem Benutzer hier im Forum (Danke für den Hinweis, Tim!) davon gelesen.

Zum besseren Verständnis kurz zu mir. Ich leide seit meiner Zeit als Jugendlicher an einer Zwangserkrankung. Am Anfang waren es eher Zwangsgedanken und Kontrollzwängem, später dann Waschzwaänge, heute eigentlich alles :( . Die Waschzwänge waren am Ende meines Studiums so schlimm, dass ich buchstäblich nach dem Aufstehen unter die Dusche bin und mehr oder weniger erst abends wieder rausgekommen bin.
Nach einer mehrmonatigen stationären Therapie und anschließenden ambulanten Therapien habe ich immerhin mein Studium abschließen & promovieren können. Die Therapien haben mir am Ende aber nicht mehr wirklich geholfen, deshalb habe auch seit ca. 15 Jahren keine mehr gemacht. Ich wurstele mich jetzt halt so durchs Leben. Neben Vollzeitarbeit und Zwang bleibt da für Anderes oft keine Zeit & Energie mehr.

Jetzt aber zu meinen Fragen:
  • Kann mir jemand so genau wie möglich beschreiben, wie der Weg zur Anerkennung einer Behinderung verläuft?
  • Was genau sind die Vorteile einer anerkannten Behinderung? Da geht es mir weniger ums Parken etc., eher um den Einfluss aufs Berufsleben.
Behördengänge, Arztbesuch etc. sind relativ aufwendig für mich, daher möchte ich lieber vorher abklären, ob sich das lohnt.

Übrigens, schreiben über mich fällt mir wegen magischen Denkens & Zwangsgedanken oft sehr schwer. Deshalb kann es mal dauern, bis ich mich zu einer Antwort überwinden kann, das ist dann sozusagen Teil meiner persönlichen Konfrontationstherapie ;) .
downtherabbithole
Beiträge: 206
Registriert: Sa 7. Nov 2020, 21:10

Re: Zwang & Behinderung

Beitrag von downtherabbithole »

Hallo,

mich würde das auch sehr interessieren.
@Tim
Ich hoffe du liest das und kannst uns helfen :lol: Oder natürlich auch jemand anderes.

Mir fallen Behördengänge auch so schwer und im Internet bin ich irgendwie nicht so weit gekommen, deswegen habe ich mich mit dem Thema zwar mal beschäftigt, es dann aber wieder sein gelassen.
TeeCoffee
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Registriert: Di 12. Jul 2022, 01:56

Re: Zwang & Behinderung

Beitrag von TeeCoffee »

Hallo Juvo,

darf ich eine private Nachricht schicken? Ich möchte den thread nicht vom Thema Behinderung weglenken zu dem ich nichts sagen kann.
Aber manches an deiner Beschreibung "Naturwissenschaften/Promotion, von schweren Zwaengen durch stationäre Therapie weg aber immer noch betroffen, nun durchwurschteln" klingt sehr aehnlich wie bei mir. Ich habe auch diesbezüglich etwas unter "Zwangserkrankung und Arbeiten" geschrieben - aber mich wuerden ein paar Details interessieren, aber nur wenn es OK ist und eben das Schreiben nicht zu schwierig fuer dich.
Gruss
Juvo
Beiträge: 16
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Re: Zwang & Behinderung

Beitrag von Juvo »

Hallo TeaCoffee,
kannst Du natürlich gerne machen.
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Antonia
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Re: Zwang & Behinderung

Beitrag von Antonia »

Hallo Juvo, hallo ihr Lieben!

Ja, für die Zwangsstörung ist es möglich einen Schwerbehindertenausweis, bzw. einen Grad der Behinderung zu bekommen.
In unserer Z-aktuell 2/2022 hat Dennis Riehle einen sehr ausführlichen und interessanten Artikel dazu geschrieben.
Die Zeitschrift kostet 5 Euro plus Porto und kann in der Geschäftsstelle bestellt werden.
Einfach eine Mail an zwang@t-online.de schreiben oder anrufen; Mo-Fr. 10-12 Uhr 040 689 13 700.
Liebe Grüße Antonia.
Ich bin nicht auf der Welt, um so zu sein, wie andere mich haben wollen. ;)
TeeCoffee
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Re: Zwang & Behinderung

Beitrag von TeeCoffee »

Juvo, ist etwas angekommen? Ich habe es abgeschickt, aber nichts erscheint im Ordner "gesendete Nachrichten" oder Postausgang....keine Ahnung was ich falsch mache. Hab das noch nie gemacht....
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Tim
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Registriert: Di 28. Sep 2021, 15:47

Re: Zwang & Behinderung

Beitrag von Tim »

Hallo

Meinen großen Respekt an Dich @juvo .

zum Thema GDB kann ich gerne was schreiben.

Als erstes die kurze Zusammenfassung.
Die Regelung erfolgt über das IX Sozialgesetz.

Den Antrag stellt man beim Versorgungsamt was für einen Zuständig ist.


Wichtig
1. Der GDB ist keine Prozentangabe. Also GDB 50 heißt nicht man ist zu 50% behindert.
2. Bei der Bemessung geht es nicht um den Schweregrad der Behinderung. Es geht um die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben.
Also wie stark behindert mich meine Krankheit an Teilnahme des öffentlichen Leben. Und auf der Arbeit.
Letztlich bedingt in den meisten Fällen das eine das andere.

Ich habe Euch hier mal ein paar Links gepostet die wichtige
Infos erhalten.

https://www.vdk.de/deutschland/pages/th ... derung_gdb
https://www.vdk.de/deutschland/pages/th ... ehinderung
Hier ein link wo es um Depressionen und GDB geht.

Dies ist aber fast 1:1 auf Zwänge .

Ich hoffe ich schreibe hier nicht zu weitschweifend.

In meinem Fall war es so daß ich sofort ohne Probleme den GDB 30
bekommen hatte. Ich hatte das erst sehr zögerlich gemacht. Meine damalige Therapeutin hatte es mir aber empfohlen.

Hier wieder mal typisch für die Krankheit im speziellen "Schamgefühl".
Ich gelte dann als "Behindert". Wie blöd. Doch im Alltag fragt einen niemand danach! Und man muss es ja nicht erzählen.
Ich habe es aber meinen Freunden erzählt und hatte damit 0 Probleme.

Dann hatte ich einige Jahre später noch mal einen
neuen Antrag gestellt. Da bekam ich den GDB 40 zugesprochen.
Das war während meiner Zeit als Student.
Ich habe 2000 angefangen mit dem Studium. Ab 2003 bekam ich die Zwänge.
Ab 2008 war ich nach Panikattacken dann "endlich Therapiereif".
Von da an sank meine Studienfähigkeit. Meine Freunde wurden dann fertig und ich blieb zurück. Wenn man keine Freunde hat und einem das Studium nicht leicht fällt und Zwänge hat ist Studieren nur sehr eingeschränkt möglich.

Ich wechselte dann auf Anraten meines sehr guten Profs zum Bachelor.

Während dieser Zeit habe ich pro Semester max. 3 Vorlesungen besucht.
Manchmal nur eine.

Als ich dann fertig war mit Studium und in eine neue Stadt umzog wurde der Zwang noch mal schlimmer.

Ich habe dann wieder einen Antrag gestellt auf GDB 50 oder mehr der wurde aber abgelehnt.
Ich habe Widerspruch eingelegt. Der wurde abgewiesen.

Zwischenzeitlich war ich 2015 in der Klinik Mühlhausen. Dort wurde mir sogar ein GDB 90 als möglich gesagt.

Dann habe ich einen Anwalt eingesetzt.
Mit diesem habe ich dann den GDB bewilligt bekommen.
Ich habe 1000 Euro bezahlt.

Kleines Zwischenresumeé

Meiner Meinung bewilligen die Ämter nur ungern einen GDB für Menschen mit psych. Krankheiten der höher als 40 ist.

Dies bestätigte mir die Anwältin.
Sie meinte das Anträge auf GDB 50 und mehr erst mal per se abgelehnt werden .

Meiner Meinung nach ist das "typisch" für diese Gesellschaft. Man möchte "von oben" vermeiden das plötzlich bekannt wird viele Menschen eigentlich "schwerbehindert" sind.
Wir haben seit Jahren eine zu geringe Dichte an Gesetzlich Krankenversichert Zugelassenen Therapeuten.
Jeder weis wie lange man teilweise auf einen Therapieplatz warten muss.
Wenn dann noch bekannt würde wie viele Menschen diesbezüglich behindert sind müsste man zum einen handeln und man müsste sich eingestehen das die Gesellschaft ein Problem hat. Mit den Anforderungen . Den belastungen die einen jeden von uns umgeben.
Das möchte man meiner Meinung nach so weit es geht unerkannt lassen.

In Zeiten von C. und Kriegen steigen die Zahlen der Menschen mit Ängsten enorm.

An der Stelle möchte ich noch mal bewusst machen wie schlimm diese Situation für Menschen ist die wenig Geld haben.
Wenn man sich keinen Anwalt leisten kann hat man Pech gehabt.
Wer warum auch immer wenig Geld hat wird wiedermal bestraft.
Eine gesellschaftliche Ungerechtigkeit die mich beschämt.

Nun zu den Vorteilen.

Für mich war und ist es wie gesagt selbstverständlich meinen Zwang offen zu bennen. Er steht in meinem Lebenslauf.
Ich habe mich bei allen Bewerbungen bewusst auf den Zwang bezogen im Sinne meiner eingeschränkten Leistungsfähigkeit.

Konkret hat man ab dem GDB 30 die Möglichkeit einem gesunden Menschen - WICHTIG - gleicher Qualifikation - bevorzugt zu .
Exakt auf diesen Fakt habe ich Stellenangebote gesichtet.
Denn ich wusste das meine "schlechte" Leistung auffällt.
Mal als Anhaltspunkt leiste ich subjektiv eingeschätzt 15-25% der Leistung eines normal gesunden.
Das habe ich in jedem Bewerbungsgespräch sofort gesagt.
Später hatte ich dann leider einige Gespräche genau zu dem Thema.

Mein Chef hat mich einige mal daran erinnert wie wenig ich doch mache.
Oder das er froh wäre wenn er so wenig machen dürfte wie ich.
Das ist nicht gerade motivierend.

Das war dann der Grund wieso ich den GDB beantragen wollte.
Denn damit gilt man eben als "schwerbehindert". Das hat weitreichende Konsequenzen. Jedenfalls im öffentlichen Dienst wo ich angestellt bin.
Vor allem wird man dann "von Oben" anders behandelt.
Die Leute begreifen dann eben das man nicht das gleiche abliefern kann wie der gesunde.

Man hat einen besseren Kündigungs Schutz.

Daneben noch drei Urlaubstage mehr. Das war für mich aber unwichtig.

Für mich war die offizielle Anerkennung der Einschränkung das wichtige.
Denn gerade wir Zwängler wirken eben normal Leistungsfähig. Das hat meiner Meinung nach eben den großen Nachteil das wir so behandelt werden als wären wir normal Leistungsfähig. Was wir aber nicht sind.
Ich wurde schon zu einer relativ weit "oben" sitzenden Vorgesetzten zitiert. Diese wollte wissen was ich denn für meine Gesundung tue.
Das ich doch wissen muss dass ich aktiv was tun muss damit ich wieder "gesund" werde. Das alles noch bevor ich den GDB 50 .

Seit dem ich den GDB 50 habe fühle ich mich viel weniger unter Druck.

Ich habe gehört das es in der privat Wirtschaft zumindest sog. Ausgleiche gibt wenn die einen Menschen mit Behinderung einstellen.
Also immerhin hätte man dort wo es das gibt eben so weniger Druck.
Für Autisten weiss ich es dass es Firmen gibt die gezielt Stellen für diese anbieten. Übrigens nicht aus Mitleid. Sondern weil Autisten meist besonders begabt sind.

Resumeé.

Anfänglich hatte ich große Probleme mit dem Gedanken einen GDB zu haben.
-> erwies sich für mic als unnötig.
Weder wurde ich jemals danach gefragt noch hatte ich je negative Konsequenzen.

Man bekommt meiner Erfahrung nach leicht einen GDB 30 oder 40.

Alles was ab GDB 50 ist kann sehr belastend sein wenn die Ämter das ablehnen.
-> Mit Anwalt hat man sehr gute Chancen das es bewilligt wird.
-> Sehr gemein für arme Menschen.

Die Vorteile eines GDB50 liegen für mich auf der Hand.
-> Leistungsdruck sinkt
-> Arbeitgeber "weis bescheid"
-> Arbeitgeber kann sogar Vorteile davon haben
-> Besserer Kündigung Schutz
-> Anerkennung der Tatsache das man wirklich schwer eingeschränkt ist

Mit dem GDB50 bin ich sehr froh. Übrigens kann man den GDB wieder abgeben wenn die Krankheit weniger stark ist.

Ich hoffe ich konnte Euch helfen und Menschen dem Mut geben eine GDB zu beantragen.

beste Grüße
Tim
Juvo
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Registriert: Sa 2. Jan 2021, 11:20

Re: Zwang & Behinderung

Beitrag von Juvo »

Hallo Antonia, Hallo Tim,

vielen Dank für die wertvollen Infos.
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michael_m
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Registriert: Di 17. Apr 2018, 20:01

Re: Zwang & Behinderung

Beitrag von michael_m »

Wollte noch ergänzen, dass man mit der Schwerbehinderung auch unter Voraussetzungen früher in die Altersrente kann: https://www.deutsche-rentenversicherung ... schen.html

Man kann sich auch ab einem GdB von 30 vom Arbeitsamt im Berufsleben einer Schwerbehinderung gleichstellen lassen. Somit hat man ebenfalls u. a. den besonderen Kündigungsschutz. Den Sonderurlaub gibts dann aber nicht.

Und noch zum weit verbreiteten Irrtum: Für die Behindertenparkplätze benötigt man neben der Schwerbehinderung zusätzlich das Merkzeichen "G" (Gehbehinderung). Wird man mit der Zwangsstörung alleine eher selten haben. ;)
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Tim
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Registriert: Di 28. Sep 2021, 15:47

Re: Zwang & Behinderung

Beitrag von Tim »

Hallo.

Was ich noch nicht geschrieben hatte.

Man braucht Gutachten von einem Psychiater/Psychotherapeut oder Neurologen wenn man den GDB beantragt.
Das hatte ich gar nicht geschrieben.

Wichtig hierbei ist aber das dort vor allem stehen sollte wie sehr man gehindert wird am öffentlichen Leben teil zu nehmen. Also wie z.B. Kino Besuche etc. Behördengänge. Vor allem ist es wichtig die Situation im Beruf zu schildern.
Es hilft den Gutachtern wenig zu lesen welche Symptome der Patient hat. So wurde mir das gesagt.

Leider bzw. logischerweise wissen die meisten VT's und Neurologen aber nicht was in so einem Schreiben stehen sollte.
Ich hatte damals alle meine Klinikaufenthalts Abschlussberichte und die Berichte der amb. VT's eingereicht.
Ohne Erfolg wo es um den GDB 50 ging.

Sehr richtig schreibt
michael_m hat geschrieben:Man kann sich auch ab einem GdB von 30 vom Arbeitsamt im Berufsleben einer Schwerbehinderung gleichstellen lassen. Somit hat man ebenfalls u. a. den besonderen Kündigungsschutz.
Das hatte ich gemacht. Bevor ich den GDB 50 hatte.
Doch das Amt hatte mir das nicht bewilligt.
Begründung. Ich habe schon genug Kündigungsschutz im öffentlichen Dienst.

Eigentlich eine Frechheit. Ich war damals aber viel zu psych. down als das ich da Widerspruch eingelegt hätte.
Also eben hier wieder mal die Erkenntnis das die Ämter in solchen Fragen gerne mal abwiegeln.

Man hat zwar einen erhöhten Kündigungsschutz aber ich habe wie schon woanders geschrieben nicht nur ein mal die
Diskussion erlebt wo mir mitgeteilt wurde das ich eigentlich zu unrecht diese Position habe. Bzw.
das Geld verdiene was ein gesunder bekommt.

Man muss sich eben leider oft durchschlagen.

Ein wenige zwanghaftes WE euch.
Tim
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